Paralympics:Warum es geistig behinderte Sportler so schwer haben

2016 Rio Paralympics - Day 3

Martina Caironi aus Italien fliegt in den Sand - mit einer Prothese.

(Foto: Getty Images)

Sportler mit geistigen Beeinträchtigungen kämpfen bei den Paralympics um Aufmerksamkeit - doch das Publikum sieht lieber Prothesenläufer.

Von Ronny Blaschke, Rio de Janeiro

Es ist die Spielfreude, die Hartmut Freund am Tischtennis reizt, nicht das Gewinnen. Wenn ihm ein Ballwechsel gefallen hat, springt er kurz auf und ballt die Hand zur Faust. Den Spielstand kennt er nicht, er weiß auch nicht, wer den nächsten Aufschlag hat. Hartmut Freund aus Bietigheim-Bissingen lebt mit einer frühkindlichen Hirnschädigung. Sein Intelligenzquotient liegt bei 46. Wohl niemand auf der Welt mit einer vergleichbar schweren Beeinträchtigung spielt besser als er. Bei den Paralympics in Rio, dem wichtigsten Ereignis des Behindertensports, darf er trotzdem nicht dabei sein.

Freund, 48, und viele Sportler mit einem ähnlichen IQ leiden noch immer unter einem Betrug aus dem Jahr 2000. Bei den Sommer-Paralympics in Sydney gewann das spanische Basketballteam Gold. Bald darauf kam heraus, dass zehn der zwölf Spieler ihre geistige Behinderung vorgetäuscht hatten. Das Internationale Paralympische Komitee verbannte den Sport mit intellektueller Beeinträchtigung komplett. Dem hehren Anspruch, die Vielfalt der Sportler mit Behinderung abzubilden, wurde es nicht mehr gerecht.

Zwölf Jahre später wurden wieder drei Sportarten geöffnet, allerdings nur bei den Sommerspielen, in der Leichtathletik, im Schwimmen und im Tischtennis. Von den rund 4250 Athleten in London hatten 120 eine intellektuelle Beeinträchtigung, drei Prozent des Teilnehmerfeldes. Das IPC stellte eine Erweiterung in Aussicht. Doch in Rio ist es bei diesen drei Sportarten geblieben, dieses Mal mit 130 Teilnehmern.

Die Handicaps unterscheiden sich enorm

Wieder gibt es für sie nur eine ziemlich weit gefasste Startklasse: Ihr Intelligenzquotient darf die 75 Punkte nicht überschreiten, sie müssen im Alltag zudem auf Hilfe angewiesen sein. Mit diesen Regeln hat Hartmut Freund keine Chance. Er wäre in taktischen Fragen klar benachteiligt, auch wenn er seit 2011 fünf deutsche Meisterschaften gewonnen hat.

Die Behindertensportler möchten nicht als einheitliche Gruppe wahrgenommen werden. Ihre körperlichen Handicaps unterscheiden sich enorm. So ist es auch bei intellektuellen Einschränkungen: Lernschwächen, Downsyndrom oder plötzliche Vergesslichkeit sind schwer vergleichbar. In Rio sind nun vor allem Athleten mit einer Lernschwäche vertreten. Hartnäckig halten sich Gerüchte, dass es noch immer vorgetäuschte Beeinträchtigungen gibt. Bestätigen will das niemand.

Die Sportler absolvieren in ihren Heimatländern Intelligenztests von unterschiedlicher Glaubwürdigkeit. Für internationale Wettkämpfe führt die INAS, der Weltverband für geistig behinderte Leistungssportler, weitere Untersuchungen durch. Dabei werden die Reaktionszeit oder die Konzentrationsfähigkeit im Tischtennis anders bewertet als im Sprint. Die gemeinnützige Bundesvereinigung Lebenshilfe, die sich für Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland einsetzt, findet solche Verfahren entwürdigend: Niemand solle unter Druck eine Behinderung beweisen müssen.

400 000 Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland

Das IPC könnte Sportlern wie Hartmut Freund eine Chance ermöglichen, indem es eine zweite Startklasse einführt. Doch daran bestehe weder beim IPC noch beim Deutschen Behindertensportverband gesteigertes Interesse, sagt Norbert Freund, der Bruder und gesetzliche Betreuer von Hartmut Freund: "Weil dies zulasten der Startplätze für Körperbehinderte ginge." Der DBS hatte sich 2013 beim IPC mit einem Antrag starkgemacht für eine zweite Wettkampfklasse, allerdings ohne Nachdruck. In London 2012 war das deutsche Team mit zwei geistig behinderten Sportlern vertreten, nun in Rio ist nur die Schwimmerin Janina Breuer aus Berlin dabei - damit liegt der Anteil von Sportlern mit intellektueller Beeinträchtigung unter dem Schnitt, bei 0,6 Prozent.

Etwa 400 000 Menschen leben in Deutschland mit einer geistigen Behinderung, nur ein bis zwei Prozent von ihnen sollen in Sportvereinen aktiv sein. Die zentrale Rolle im Breitensport spielt das Netzwerk Special Olympics. Der für Leistungssport verantwortliche DBS hält bei Special Olympics selten Ausschau nach Talenten. Der Verband entsendet auch kaum Sportler zu den Global Games, den Weltspielen von geistig behinderten Athleten. Funktionäre und Trainer, Betreuer und Aktivensprecher: Fast nie kommen die Entscheidungsträger des DBS und seiner Landesverbände aus dem Umfeld von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung. Der Mehrheitsgeschmack orientiert sich am Laufen und Springen mit Prothesen.

Karl Quade, Chef de Mission des deutschen Teams, sagt, dass das Umfeld von geistig behinderten Menschen oft schwer geeignet sei für Leistungssport. Die meisten von ihnen haben Verpflichtungen in Werkstätten und bräuchten eine intensive Betreuung, etwa mit leichter Sprache und mit Verbildlichungen. Quade sagt aber auch, dass "unter dem Dach Paralympics alle Platz finden sollten": körperlich sowie geistig Behinderte - und auch Gehörlose. Doch die haben wiederum ein eigenes Großereignis, die Deaflympics. Noch kann von Gleichbehandlung bei der wichtigsten Messe, den Paralympics, keine Rede sein.

Für Tischtennisspieler mit einer körperlichen Behinderung gibt es übrigens zehn Wettkampfklassen, für Spieler mit einer geistigen Behinderung: eine. Und 2020 in Tokio? Man befinde sich in Gesprächen, teilt das IPC mit.

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