Süddeutsche Zeitung

Paralympics: Verena Bentele:Besser als Lena

Dass die blinde Langläuferin und Biathletin Verena Bentele in Vancouver schon dreimal Gold gewonnen hat, ist ein kleines Wunder: Ein schwerer Unfall hätte ihre Karriere fast beendet.

Rebecca Schäfer

Es ist der 10. Januar 2009. Die Deutsche Meisterschaft in den nordischen Disziplinen der körperbehinderten Sportler in Nesselwang. Verena Bentele liegt gut im Rennen über zwölf Kilometer Langlauf. Sie läuft einen Anstieg hinauf. Es folgt eine Abfahrt. Routine für die zigfache Paralympics-Siegerin. Aber an diesem Tag folgt das falsche Signal ihres Begleitläufers, der vor ihr läuft, für die blinde Bentele die Strecke sieht und sie darauf führt. Hindernisse, Orientierung, Richtungswechsel - nur durch seine Kommandos, durch "Hepp", "He", "links" und "rechts", weiß die Athletin, was sie auf der Strecke als Nächstes tun muss.

"Er hat links und rechts verwechselt", sagt Bentele. Sie stürzt einen Abhang hinab in ein ausgetrocknetes Flussbett. Drei Meter tief. Dabei reißt sie sich das Kreuzband im Knie, die Kapseln in zwei Fingern und erleidet schwere Verletzungen an der Leber und - wie sich erst zu spät herausstellen sollte - einer Niere. Die Niere verliert sie. Genauso wie das Vertrauen in ihren damaligen Begleitläufer.

Es ist der 17. Februar 2010. Das 12,5-Kilometer-Biathlon-Rennen der Sehbehinderten bei den Paralympics in Vancouver. Verena Bentele weint im Zielraum. Vor Freude. Und sie umarmt ihren neuen Begleitläufer Thomas Friedrich. Ihr dritter Start in Vancouver, ihr drittes Gold, ihre insgesamt zehnte paralympische Goldmedaille. Rund ein Jahr nach dem Unfall, der lange ihr Karriereende zu bedeuten schien. "Das ist für mich immer noch ein riesiges Geschenk, dass ich das hier erleben darf", sagt Bentele. Und Frank Höfle, Deutschlands erfolgreichster Paralympionike, hatte schon nach ihrem ersten Sieg in Vancouver, der 3-Kilometer-Verfolgung im Biathlon, festgestellt: "Diese Medaille ist mehr wert als fünf Goldmedaillen von Magdalena Neuner."

Verena Bentele ist tatsächlich ein bisschen die Magdalena Neuner der Paralympics. Beide Frauen sind die herausragenden Athletinnen ihres Sports. Neuner gewann in Vancouver drei olympische Biathlon-Medaillen, zwei davon in Gold. Bentele hat sie mit ihrer dritten Goldmedaille schon jetzt überflügelt. Beide sind hübsch, beide kommen daher gut bei den Medien an.

Dass Benteles Erfolge gemessen an ihrer persönlichen Geschichte womöglich noch ein wenig höher einzuordnen sind, liegt nicht nur an dem schrecklichen Unfall im letzten Jahr. Viel mehr liegt es daran, dass Verena Bentele zwar seit ihrer Geburt blind ist, sich aber nie über ihre Behinderung zu definieren scheint. Ob in Interviews, ob auf ihrer eigenen Homepage oder ob in ihrem Privatleben - es ist fast so, als wäre diese Behinderung gar nicht da.

"Als Kind bin ich gemeinsam mit meinen Brüdern auf die Dächer der Nachbarhäuser geklettert. Die haben gemeint, auf ein Schrägdach kann man gut drauf, also bin ich mitgekommen." Das Mädchen Verena macht Leichtathletik, lernt Judo und Skifahren. In der Pubertät kommt sie zum Langlauf, später zum Biathlon, und bleibt dabei. Beim Schießen mit dem Infrarotgewehr zielen blinde Athleten mit den Ohren, sie orientieren sich an einem akkustischen Signal. Wenn das Ziel richtig anvisiert wird, erklingt ein bestimmter Ton.

1998 holt die damals 16-jährige Bentele in Nagano die erste ihrer inzwischen zehn paralympischen Goldmedaillen. Seit 2001 studiert die Tettnangerin (Bodensee) in München Neuere Deutsche Literatur. Nach Abschluss ihres Studiums möchte sie im Bereich Öffentlichkeitsarbeit und Personaltraining arbeiten. Schon jetzt hält sie Vorträge und Motivationsseminare.

Der Glaube an die eigenen Fähigkeiten und ihre Kämpfernatur haben Verena Bentele nach ihrem Unfall eigentlich erst zurück auf die Langlauf- und Biathlonstrecken kehren lassen. "Schon in der Reha habe ich den Sport unglaublich vermisst. Als ich dann mit einem Freund beim Tandem-Radfahren mit 70 Sachen einen Berg abwärtsgefahren bin, ist mir zwar die Luft weggeblieben vor Angst, aber gleichzeitig spürte ich, dass ich diese Angst wieder in den Griff bekomme."

Schwieriger ist es, erneut Vertrauen in einen Begleitläufer zu fassen. Aber ohne das "sprechendes Auge" ist der Sport für blinde und sehbehinderte Athleten nicht möglich. Bentele findet den für sie perfekten "Guide" in Thomas Friedrich (Bonn). Der hatte jahrelang ihren ebenfalls blinden Bruder Michael durch die Loipen geführt, nach Turin 2006 seine Karriere eigentlich beendet. Das nicht nur sportliche, sondern auch persönliche Vertrauen, das so schwierig zu gewinnen ist, war bei Friedrich schon da. Wie Bentele ihn zum Rücktritt vom Rücktritt überredet hat, beschreibt die 28-Jährige gewohnt selbstironisch: "Ich habe so lange mit den Augen geklimpert, bis ich ihn überzeugt hatte."

"Sie war am Anfang schon sehr verunsichert", sagt Friedrich über die kurze gemeinsame Vorbereitungszeit von nur neun Monaten. Dass die beiden nun in Vancouver so stark auftrumpfen, ist daher trotz der bislang überzeugenden Weltcup-Saison nicht selbstverständlich. "Die drei Goldmedaillen gehören zu einem ganz großen Teil Thomas", sagt Verena Bentele. Und bei dreien soll es nicht bleiben; die selbstbewusste 28-Jährige steckt die Erwartungen hoch: "Hier geht was. Das war noch nicht das letzte Rennen, es kommen noch vier." Das hatte Bentele nach ihrem ersten Gold in Vancouver versprochen. Zweimal hat sie dieses Versprechen schon eingelöst.

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