Paralympics:Spiel ihres Lebens

*** BESTPIX *** 2020 Tokyo Paralympics - Day 1

Für harte Rollis: Manche Rollstuhlrugby-Spieler landen schon mal auf dem Parkett - wie der Brite Jamie Stead.

(Foto: Alex Davidson/Getty)

Rollstuhlrugby hat sich von seinem Status als Reha-Übung emanzipiert - und erzählt so einiges von der Professionalisierung bei den Paralympics. Über einen Sport, in dem Menschen mit tauben Fingern und Beinen wieder das Spüren erleben.

Von Thomas Hahn, Tokio

Wenn Coach Jason Regier die ganze Geschichte erzählen sollte, müsste er damit anfangen, wie er bei Tempo 120 den Radiosender wechselte. Bald 25 Jahre ist das her, 21 war er damals, ein Soccer-Talent von der Oregon State University in den USA. Er passte nicht auf, kam von der Straße ab, brach sich das Genick. So beginnen Rollstuhlrugby-Karrieren.

Aber jetzt ist Jason Regier, 46, der Nationaltrainer Dänemarks bei den Paralympics in Tokio. Er spricht vom Spiel, das im Yoyogi National Stadium gerade zu Ende gegangen ist, und schaut schon wieder voraus. Selbst dieser 54:53-Überraschungssieg gegen Titelverteidiger Australien vom Auftakt am Mittwoch ist nicht mehr sein Thema, denn beim 51:60 gegen Japan sah er seiner Mannschaft wieder an, dass sie zum ersten Mal auf der großen Bühne spielt. Zu viele Ballverluste, zu wenig Ruhe. Jason Regier wirkt nachdenklich. In seinem Kopf scheint das Match weiterzugehen, dieses ständige, atemlose Umschalten von Verteidigung auf Angriff, um den Ball über die Linie der anderen zu fahren.

"Das Spiel ist so schnell und so technisch, jede Kleinigkeit kann ausgenutzt werden", sagt er. "Bei jedem Spielzug muss man vier bis fünf Dinge richtig machen, und das dann 60 bis 70 Mal. Man muss die ganze Zeit gut spielen. Und das ist der nächste Schritt." Er denkt an seine Dänen. "Denn das ist es, was gute Teams tun. Sie spielen die ganze Zeit gut."

Die großen Geschichten müssen manchmal hinter den kleinen verschwinden, sonst wird das Leben zu schwer. Spiele sind dazu da, dass man sie ernst nimmt, um den wahren Ernst ein bisschen leichter nehmen zu können. Und Rollstuhlrugby ist ein gutes Beispiel dafür, wie auch ein alter Rehasport zur wichtigsten Nebensache der Welt wachsen kann.

Die Erfinder nannten das Spiel zunächst "Muderball" - wegen der wenig rollstuhlschonenden Art

Rollstuhlrugby kommt aus Kanada, genauer gesagt aus einer Sporthalle in Winnipeg. Dort wurde es 1977 von fünf örtlichen Tetraplegikern erfunden, von Einheimischen also, deren Querschnittslähmung alle vier Gliedmaßen betrifft. Duncan Campbell, Jerry Terwin, Randy Dueck, Paul LeJeune und Chris Sargent waren damals mit ihrem Trainer zum Fitnesstraining verabredet. Der Trainer kam nicht. Sie versuchten sich erst mit einem Basketball die Zeit zu vertreiben, aber der war zu schwer für ihre geschwächten Arme. Also nahmen sie einen Volleyball. Weil sie die Basketballkörbe nicht erreichen konnten, warfen sie auf Mülleimer. Weil es mühsam war, den Volleyball wieder aus den Mülleimern zu holen, entschieden sie, eine Zielzone wie beim Rugby abzustecken. So fing es an. Sie nannten das Spiel zunächst Murderball, wegen der wenig rollstuhlschonenden Art, mit der sie um den Ball kämpften.

Bis heute ist Rollstuhlrugby das Spiel für harte Rollis. Körperlich, intensiv, leidenschaftlich. Eisen kracht auf Eisen. Manchmal liegt jemand auf dem Rücken und streckt die Räder von sich. Viele sind dazu gekommen, weil sie mit ihren tauben Beinen und Fingern einen Sport machen wollten, den sie spüren können. Die preisgekrönte Dokumentation "Murderball" über das US-Team bei den Paralympics 2004 war ein großer Inspirationsbrunnen. Charles Aoki, Topscorer der Amerikaner, der wegen einer Nervenkrankheit kein Gefühl unterhalb der Knie und Ellbogen hat, wechselte vom Basketball zum Rugby, nachdem er "Murderball" gesehen hatte. US-Kapitän Joe Delagrave, der bis zu seinem Halsbruch bei einem Bootsunfall ein talentierter American-Football-Spieler war, bekam beim Rugby seine verloren geglaubte Identität zurück: "Ich habe mich wieder wie der Athlet gefühlt, der ich mal war und wieder sein wollte."

Ein bisschen lenkt das Gerumse von den Tiefen des Spiels ab. Rollstuhlrugby ist ein Männerspiel mit Frauen. Vier Leute darf jedes Team aufs Feld schicken. Deren Behinderung wird mit Punkten bewertet, je schwerer die Behinderung, desto niedriger die Punktzahl. Jedes Team darf zusammen höchstens acht Punkte haben - und 0,5 Punkte mehr, wenn es eine Frau aufbietet. Insgesamt spielen vier Frauen im paralympischen Rugby-Turnier mit. Bei Team Dänemark bringt zum Beispiel Sofie Sejer Skoubo mehr taktische Vielfalt, bei Team Japan die seit einem Trampolinunfall gelähmte Kae Kurahashi. "Für beide Teams ist das ein großer Vorteil", sagt Jason Regier.

Paralympics: Auch ein Titelfavorit wie Australien (in der Bildmitte Andrew Harrison) hat es nicht immer leicht.

Auch ein Titelfavorit wie Australien (in der Bildmitte Andrew Harrison) hat es nicht immer leicht.

(Foto: Charly Triballeau/AFP)

Und das Spiel entwickelt sich. Die Pandemie hat manche Teams in ihrem Ehrgeiz gebremst. Team Australien, Paralympics-Sieger von 2012 und 2016, hatte seit Februar 2020 bis zum missratenen Auftakt gegen Dänemark in Tokio kein Länderspiel. "Alle sind ein bisschen eingerostet", sagt Jason Regier. Trotzdem wirkt es so, als würde das Spiel immer erwachsener. Einer wie Regier, als Spieler Paralympics-Sieger und dreimaliger Spiele-Teilnehmer, trägt jetzt dazu bei, dass die Erfahrung der US-Pioniere um die Welt geht; das Paralympische Komitee Dänemarks holte ihn 2017 mit dem Auftrag, die Paralympia-Qualifikation zu schaffen. Auch Goldmitfavorit Japan hat in Kevin Orr einen amerikanischen Coach. Rollstuhlrugby ist längst nicht mehr der Turnhallenstreich, als der es mal begann, sondern eine Sache für Trainingswissenschaftler, Videoanalysten und Strategen. "Die Professionalisierung nimmt zu", sagt Australiens Trainer Brad Dubberley.

Jason Regier denkt jetzt ans nächste Spiel. Den Erfolg gegen Australien will er nicht zur Sensation aufbauschen. "Für mich war das nicht unerwartet", sagt er mit strenger Lässigkeit, "wir hätten das gleiche gegen Japan machen können, aber Japan war einfach zu gut." Jetzt Frankreich. Ein Sieg, und Dänemark könnte im Halbfinale stehen. Für Jason Regier und seine Leute ist es für den Moment das wichtigste Spiel ihres Lebens.

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