Paralympics-Sieger Popow:Der Aufsteher

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Mit EM-Silber beendet Heinrich Popow seine einzigartige Sportkarriere. Ab jetzt verlegt er sich auf das, was er außer dem Weitsprung am besten beherrscht: Menschen wieder das Laufen beizubringen.

Von Sebastian Fischer, Berlin

Als alle auf ihn schauten, da sah er nach links. Als alle ihm zujubelten, da legte er den Finger auf die Lippen. Heinrich Popow hatte sich im Sand verbeugt nach dem letzten Weitsprung seines Lebens. Doch nun sollte die Bühne nicht ihm gehören, sondern dem neuen Europameister, der noch einen Versuch absolvieren durfte. Der Sport sollte im Mittelpunkt stehen.

Es war ein schönes kleines Bild zum Ende einer großen Karriere. Es passte auch zum neuen Anfang.

Heinrich Popow, 35, Deutschlands bekanntester Behindertensportler, ist nach 18 Jahren als Athlet am Dienstagabend mit einer Silbermedaille bei den Europameisterschaften der paralympischen Leichtathleten in Berlin abgetreten. Es ist seine 30. Medaille. Er hat bei den Paralympics 2012 Gold über 100 Meter gewonnen, 2016 in Rio de Janeiro Gold im Weitsprung. Doch wenn man ihn nach den prägendsten Erlebnissen fragte, dann sprach er schon in den vergangenen Jahren immer davon, wie er Menschen das Laufen beibringt.

Am Mittwochmorgen steht Popow auf einem Kunstrasenplatz im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark, abseits des Stadions. Vor ihm sitzen zwölf Menschen aus ganz Europa. Die meisten von ihnen werden gleich zum ersten Mal auf Sportprothesen laufen, auf Karbonfedern oder mit Kniegelenken, die anders als Alltagsprothesen für das Sprinten gebaut sind. Popow arbeitet seit Jahren für den Prothesenbauer Ottobock, als Werbebotschafter und Orthopädie-Techniker. 2013 leitete er seine erste Running Clinic, eine Laufschule. Teilnehmer können sich bewerben, dann erhalten sie für ein paar Tage hoch entwickelte Prothesen, die ihnen keine Krankenkasse bezahlt, und Training von Popow. "Ich habe nicht geschlafen", sagt er zur Begrüßung. Er lacht, spricht ein paar einführende Worte. Er sagt: "Grenzen gibt es nur im Kopf."

Popows letzter Sprung: Bei der EM wird er mit 6,24 Meter Zweiter hinter dem Dänen Daniel Wagner. (Foto: Engler/imago)

Ein Holländer, 35, ist der Erste, der zu laufen beginnt, erstmals seit ihm vor drei Jahren nach einer Blutvergiftung beide Beine amputiert wurden. Er wirft seine Arme in die Luft und jubelt vor Freude. "Ich will das so vielen Menschen ermöglichen, wie es geht", sagt Popow. "Ich weiß, wie sich das anfühlt. Ich wäre heute nicht der glückliche Mensch, der ich bin, wenn ich den Sport nicht gehabt hätte."

Wer den Sportler und Menschen Popow verstehen will, der muss noch mal zum Anfang zurück, und er selbst hat sich am Dienstag in Gedanken auf diese Reise begeben. "Das waren sechs Versuche, stellvertretend für die letzten 18 Jahre", sagte er. Vor 18 Jahren war er ein Jugendlicher, dem als neun Jahre altes Kind nach einer Kochenkrebserkrankung das linke Bein über dem Knie amputiert worden war. Ein Junge, der nicht akzeptieren wollte, dass ihm sein Sportlehrer empfahl, ein Attest einzureichen und auf Sport zu verzichten. Mit 17 ging er zum Leichtathletik-Training bei Bayer Leverkusen. Sein Team hatte ein meterlanges Transparent drucken lassen und es am Dienstag aufgespannt: "Wat wor dat dann für en superjeile Zick", stand darauf. Was für eine supergeile Zeit.

Auf der Tribüne saß Popows Vater, der die ersten Prothesen seines Sohnes in der Werkstatt im Westerwald schweißte und fräste. Dort saß der Japaner Atsushi Yamamoto, der nach Berlin geflogen war, nur um seinen langjährigen Rivalen noch mal springen zu sehen. Dort saß der Comedian Faisal Kawusi, der wie sein Kumpel Popow 2017 an einer Tanzshow im Privatfernsehen teilnahm. Popow wurde damals im Internet beleidigt, weil er mit kurzer Hose tanzte. Doch die Sendung machte ihn berühmter, als es der Sport geschafft hatte.

Auf der Tribüne saß auch der verletzte Leverkusener Weitspringer Leon Schäfer, für den Popow wie für so viele paralympische Sportler ein Mentor ist. Schäfer ging hinunter zum Zaun, um ihm gut zuzureden. "Ich habe ihm angesehen", sagte er, "dass er zu viel nachdenkt."

Bei den ersten beiden Sprüngen trat Popow über, dann sprang er 6,24 Meter, weiter aber nicht mehr. Es war nicht genug, um dem Dänen Daniel Wagner nahezukommen, der mit 6,72 Metern gewann, fünf Zentimeter hinter Popows Weltrekord. Doch so wie es in seiner Laufbahn nie nur um Ergebnisse ging, so ist es auch jetzt. Es geht noch mal um Botschaften.

Dank auf die Wange: Heinrich Popow und sein Freund und Para-Weitspringer Atsushi Yamamoto, der extra für ihn aus Japan angereist war. (Foto: Jens Büttner/dpa)

Es gibt wohl keinen paralympischen Athleten in Deutschland, der so viel für die Akzeptanz seiner Sportart getan hat, der seine Prothese und seine Behinderung erklärte und offen zeigte, der damit schon Geld verdiente, als es nur wenige konnten. Er wird einer Sportbewegung fehlen, die immer noch um Aufmerksamkeit ringt. Doch je professioneller diese Sportbewegung wurde, umso kontroverser wurde seine Meinung. Als der Weitspringer Markus Rehm, der in Berlin am Samstag antritt, 2014 deutscher Meister bei den Nichtbehinderten wurde und begann, für gemeinsame Wettbewerbe zu streiten, war Popow dagegen. "Ich bin kein Fan dieser Inklusionsdebatte, dieser Gleichmache und diesem ganzen Quatsch", sagte er am Dienstag, den Schweiß noch auf der Stirn, die Tränen in den Augen. Rehm habe ihm eine sehr nette SMS geschrieben, sagt er. Doch ihre Meinungen bleiben verschieden.

"Ich will, dass die Athleten am Anfang von Paralympischen Spielen anreisen und am Ende abreisen. Und nicht wie bei Olympia, die Funktionäre First Class anfliegen und die Athleten ihr Rückflugticket vor dem Finale haben", sagte Popow, seine Stimme zitterte. "Ich hoffe auch nicht, dass die Sponsoren uns dabei helfen, arrogante Athleten zu kreieren. Es ist die Stärke von unserem Sport, dass wir hier nicht geschäftlich unterwegs sind."

Es sind kontroverse Sätze wie diese, die er immer gesagt hat, durchaus im Bewusstsein, dass sie für Schlagzeilen taugen, aber ohne Furcht vor den Konsequenzen. Sätze, die auch einem Funktionär gut stehen würden. "Ich würde gerne was im Verband machen, aber nur, wenn ich ehrlich Dinge ansprechen darf", sagt er. Popow gilt als Kandidat für das Kuratorium des Deutschen Behindertensportverbands (DBS). Doch zunächst wird er den japanischen Verband beraten, der 2020 in Tokio die Paralympics ausrichtet. Der DBS habe sich nicht so richtig um ihn bemüht, sagt Popow.

Popow ist in den vergangenen Jahren für seinen Job als Lauf-Coach bereits um die Welt gereist, hat Schulen in Gebieten Japans besucht, wo Tsunamis wüteten, und in Indien oder Kuba mit Kindern geübt, die keine Ahnung hatten, wie sie wieder Sport treiben könnten. Aber er würde auch in Deutschland gerne Talente finden.

Neulich hat er ein 17 Jahre altes Mädchen kennengelernt, begeistert und talentiert, Melisa Gülaydin aus Kiel. Beim Training am Mittwoch in Berlin läuft sie zum zweiten Mal auf Prothesen, seit sie 2016 bei einem Verkehrsunfall einen Unterschenkel verlor. Die Krankenkasse, sagt sie, verweigere ihr gerade die wenigstens 12 000 Euro teure Sportprothese, obwohl diese in Deutschland zumindest für den Sportunterricht beantragt werden darf. Vor dem Unfall war sie Schwimmerin, spielte Volleyball und Fußball. Nun, beim Laufen, sagt sie, fühle sie sich wieder frei.

"Sie blüht wieder auf", sagen die Eltern. Sie schauen zu, wie Popow mit ihr flachst, dieser Mann, den sie vor Kurzem noch nicht kannten, dem sie nun das Lächeln ihrer Tochter verdanken.

Sie sagen: "Er ist unglaublich."

© SZ vom 23.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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