Taliso Engel schwamm Zug für Zug aufs Ziel zu, rechts und links von ihm war niemand in der Nähe. Platz eins hatte er längst sicher, auf den letzten Metern ging es für ihn nur noch darum, einen Weltrekord aufzustellen. Es wäre sein zweiter des Tages gewesen. Im Vorlauf über 100 Meter Brust für Schwimmer mit Sehbehinderung seiner Klasse hatte er die neue Bestzeit aufgestellt, 1:01,84 Minuten. Im Finale war er sechs Hundertstel langsamer.
„Aktuell“, sagte Engel später, sei „nicht wirklich“ Konkurrenz in Sicht. Für den 22-Jährigen war es bereits seine zweite Goldmedaille nach jener bei den Spielen in Tokio. Und deshalb hat er schon andere Ziele: „Im olympischen Bereich mitzumischen“, wie er es vorsichtig formulierte.
Zwei Goldmedaillen gewann das deutsche Schwimm-Team am Donnerstagabend in der Pariser La Defense Arena, und es waren zwei deutliche Favoritensiege. Auch die ebenfalls sehbehinderte Elena Semechin verteidigte in ihrem Rennen über 100 Meter Brust ihren Titel deutlich, sie verbesserte dabei ihren eigenen Weltrekord. In ihrem Fall war schon die Teilnahme an diesen Spielen eine dramatische Geschichte, nach den Paralympics in Tokio war bei ihr ein Hirntumor entdeckt worden, nach einer Chemotherapie schwamm sie wieder.
Die Diagnose, sagte sie nach dem Rennen, habe sie „aus dem Leben erst mal rausgehauen“. Sie würde mit ihrem Beispiel gern ihren „Zuschauern mitgeben, dass man seine Wünsche und Träume weiterleben kann“.
Olympia? „Wenn es irgendwann Richtung eine Minute geht, ist das Ganze nicht mehr weit weg“, sagt Engel
Die Geschichte von Engel dagegen spielt vor allem im Schwimmbecken, wo er in den vergangenen Jahren so viel schneller geworden ist, dass er in den Grenzbereich zu olympischen Athleten vorgedrungen ist. 2023 schwamm er zuletzt als einziger Athlet mit Behinderung bei den deutschen Meisterschaften gegen die Schwimmer ohne Behinderung, im Training in Nürnberg macht er das ohnehin. Mit seinem Weltrekord hätten ihm bei Olympia in diesem Sommer immerhin nur 1,84 Sekunden zu einer Qualifikationszeit fürs Halbfinale gefehlt.
Dabei war Engels Vorbereitung auf die Paralympics kompliziert. 2022 machte er das Abitur, seit 2023 hört er auf dem rechten Ohr nichts mehr, auch das Einsetzen eines Implantats half nichts, er hatte mit Gleichgewichtsproblemen zu kämpfen. Zuletzt warfen ihn Infekte immer wieder zurück.
Inzwischen scheint ihn das aber nicht mehr zu beeinträchtigen, und so fielen nach seinem Erfolg ein paar ziemlich forsche Sätze, die man sonst im deutschen paralympischen Sport eher vom in seiner ganzen Karriere ungeschlagenen Weitspringer Markus Rehm kennt. „Sein Anspruch ist, die Zeiten der olympischen Athleten zu erreichen. Das ist auch möglich, weil er keine Einschränkungen bis auf die Augen hat“, sagte Bundestrainerin Ute Schinkitz. Und: „Auf jeden Fall ist noch Luft nach oben.“
Am Donnerstag etwa, da habe er „die Wende ein bisschen verhauen“, sagte Engel: „Wenn es irgendwann Richtung eine Minute geht, ist das Ganze nicht mehr weit weg.“
Auf die Frage, ob er wirklich mal bei Olympischen Spielen schwimmen wolle, antwortete er dann aber etwas vorsichtiger. „Wenn es irgendwann kommen sollte“, nehme er das gern mit, aber es sei nicht sein Fokus. Das, sagte er, seien vorerst noch schnelle Zeiten bei den Paralympics. Einsam an der Spitze.