Süddeutsche Zeitung

Paralympics ohne Russland und Belarus:Boykotte wirken doch

Die Kehrtwende im Fall der Para-Athleten aus Russland und Belarus zeigt, wie überfordert der organisierte Sport in drängenden Fragen agieren kann. Also übernehmen die Athleten die Verantwortung.

Kommentar von Johannes Knuth

Soll niemand behaupten, Boykotte im Sport würden nichts bezwecken. Das ist ja eine beliebte Erzählung der Funktionäre: dass Boykotte nur unschuldige Athleten träfen, dass die Politik beim Sport lieber draußen zu bleiben habe - ehe der völlig unpolitische Sport es sich beim Diktator gemütlich macht, ihm Orden ans Revers heftet und Geschäfte schmiedet, während die Athleten durch die Manege getrieben werden. Aber gut. In Wahrheit ist es wohl doch eher so: Boykotte wirken, manchmal sogar im Sinne der Athleten.

20 Stunden klammerte sich das Internationale Paralympische Komitee (IPC) an seine Haltung, wonach Athleten aus Russland und Belarus unbedingt an den Paralympischen Spielen in Peking mitwirken müssen - während deren Regierungen gerade versuchen, ein souveränes Land von der Weltkarte zu schießen. 20 Stunden lang verkroch sich Andrew Parsons, der Präsident des IPC, dafür hinter Paragrafen; erzählte der Welt und der vor Ohnmacht dampfenden Delegation aus der Ukraine, dass man Nationen zwar für alles Mögliche kollektiv verbannen könne, nicht aber für einen Angriffskrieg.

20 Stunden später sackte der Bluff in sich zusammen: Athleten, Teams, ganze Para-Komitees hatten gedroht, in Peking nicht anzutreten - auf einmal ließ sich der Bann doch hinbiegen. Wobei Parsons selbst dafür auf gewisse Weise in die Opferrolle flüchtete: Politischer Druck und die "brisante" Stimmung unter vielen Athleten hätten das IPC zu dem Schritt gezwungen, unter anderem.

Es waren oft die Athleten, die zuletzt die Verantwortung schulterten

Nebenbei lenkten diese Nebelkerzen von zwei fundamentaleren Dingen ab: Zum einen hätte das Regelwerk des IPC womöglich früher einen Ausschluss ermöglicht. Zum anderen waren es - wieder einmal - Athleten und Funktionäre an der Basis, die Verantwortung schulterten, während ihre Führung offenkundig weiter an sich selbst (und ihre Geschäftspartner) dachte.

Eine kurze, höchst unvollständige Rückblende: Es waren die Athleten, die vor zwei Jahren ihre Vorgesetzten im Olymp daran erinnern mussten, dass Olympische und Paralympische Spiele in einer auffrischenden Pandemie eher verzichtbar sind. Es waren Athleten wie die Kanadierin Hayley Wickenheiser und der Deutsche Max Hartung, die dafür abgekanzelt wurden, ehe immer mehr Olympia-Komitees ankündigten, den 2020er-Termin in Tokio zu boykottieren, bis dieser abgeblasen wurde. Und es waren auch Athleten, die - mit gewissem Erfolg - dafür rangen, dass Sportler in der Arena für Menschenrechte protestiert dürfen; dass sie während der Spiele offener mit ihren Sponsoren werben können; dass ihre Disziplinen nicht einfach ungefragt aus lukrativen Meeting-Serien herausfallen. So holten sich die Sportler zumindest ein bisschen Einfluss über jene Vorstellung zurück, in der sie die Hauptdarsteller sind.

Das alles trieben übrigens zumeist jene Athleten voran, die sich in unabhängigen Strukturen organisiert haben; jenseits von Verbänden, die ihre Athletensprecher oft gezielt aussuchen und fördern. Wozu das führen kann, zeigte sich am Mittwochabend wieder: Jitske Visser, die Vorsitzende der Athletenkommission im IPC, erzählte da noch etwas davon, dass der Sport nun aber bitte bitte wieder in den Mittelpunkt rücken solle, als Friedensstifter - nachdem ihr IPC gerade die Länder der Kriegstreiber nicht ausgeschlossen hatte. Wie hohl das alles tönte, zeigte immerhin die Botschaft, die sich in den folgenden 20 Stunden zusammenbraute: Wer zusammensteht, macht vieles möglich. Das gilt für die große Politik wie für den kleinen Weltsport.

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