Die Stimmung, sagt Britta Kripke, habe sie vor allem in der Halbzeit wahrgenommen. Da lief „Voyage, Voyage“ in der Arena Champ-de-Mars, wo das deutsche Rollstuhlrugby-Nationalteam gegen Japan ihr erstes Spiel bei diesen Paralympics bestritt, das erste überhaupt seit 2008. Die Zuschauer sangen mit, es war viel los, in der Partie zuvor hatten unter lautem Getöse die Franzosen ihr Auftaktmatch gewonnen.
Kripke erinnerte das Lied an Urlaube in ihrer Kindheit, und das machte den Moment noch schöner. Das Spiel, in dem sie wie immer fürs Blocken zuständig war, die Wege für ihr Team freimachte, genoss sie ohnehin, der 44:55-Niederlage zum Trotz. Deutschland schlug sich achtbar gegen den favorisierten Gegner.

Paralympics in Paris:Erst Rekorde, dann die Revolution
Beim Auftakt der Paralympics in Paris gleicht die Stimmung jener bei Olympia, die Franzosen feiern auch den Behindertensport. Und doch sollen es andere Spiele werden – weil sie die Forderung nach mehr Inklusion in den Mittelpunkt rücken.
Kripke, 47, war die erste Frau unter Männern im Nationalteam, nun ist sie auch die erste deutsche Frau in ihrem Sport bei den Paralympics. Für sie bedeutet die Teilnahme den Höhepunkt ihrer sportlichen Laufbahn. Und was die Paralympics angeht, ist ihre Geschichte als etablierte Spielerin unter vielen Mitspielern beispielhaft für eines der großen Ziele: dass mehr Frauen mit Behinderung Sport treiben – am besten genauso viele wie Männer. Bei Olympia wurde in diesem Jahr betont, dass das Geschlechterverhältnis erstmals in der Geschichte 50 zu 50 war. Bei den Paralympics ist das schwerer. So viele Frauen wie in Paris, 1983 oder 45 Prozent, waren aber noch nie dabei.
Bevor Kripke vor 18 Jahren mit dem Rollstuhlrugby anfing, erzählt sie, habe ihr Arzt für sie keine passende Sportart gekannt. Sie wurde mit einer neurogenetischen Erkrankung geboren, ihre Muskeln schwinden. Früher konnte sie noch zu Fuß gehen, inzwischen kann sie nicht mehr stehen. Ihre Hände, so beschreibt sie es selbst, „sind schlaff gelähmt“. Den Rugbyball zu fangen, ist für sie schwierig.
Der Arzt kannte keine passende Sportart für sie – mit dieser Aussage gab sich Britta Kripke nicht zufrieden
Damals, als sie noch keinen Sport machte, weil es vermeintlich keinen passenden gab, gehörte sie statistisch betrachtet zu einer Mehrheit der Frauen mit Behinderung weltweit. 93 Prozent, diese Zahl nennen die Vereinten Nationen, seien nicht im Sport aktiv. In Studien heißt es zur Begründung etwa, dass Frauen in der Reha seltener Sport empfohlen werde, so wie es bei Kripke war. Oder dass sie, zumindest in manchen Weltregionen, an soziale, kulturelle oder ökonomische Grenzen stoßen.
Kripke gab sich mit der Aussage ihres Arztes nicht zufrieden, ging zu einer Reha-Messe, fragte nach – und wurde auf Rollstuhlrugby aufmerksam gemacht, was sie erst mal wunderte. Rugby? Sie? Es dauerte nicht lange, da spielte sie in Hamburg im Verein. Was ihr an der Sportart gefalle, sei das Gefühl, sich auspowern zu können, an ihre Grenzen zu gelangen, in anderer Art als in ihrem Joballtag in der Rechnungsprüfung eines Käse-Großhandels. Und dann gefällt ihr natürlich das Spiel an sich: „Es ist sehr taktisch.“
In der paralympischen Welt ist Rollstuhlrugby auch als „Murderball“ bekannt. So nannten es fünf Tetraplegiker – Menschen, deren Querschnittslähmung alle vier Gliedmaßen betrifft –, die den Sport 1977 in Kanada erfanden, als sie auf ihren Fitnesstrainer warteten. Der Legende nach versuchten sie zunächst Basketball zu spielen, doch der war zu schwer für ihre geschwächten Arme, also nahmen sie einen Volleyball und erfanden statt Körben eine Zielzone wie beim Rugby. „Murderball“ sagten sie, weil es schon mal krachte.
„Wie eine Mischung aus Autoscooter und Schach“, beschreibt die 47-Jährige ihren Sport
Bis heute ist eines der markanten, spektakulären Merkmale des Spiels, dass sich die Athletinnen und Athleten mit ihren Rollstühlen rammen, dass sie manchmal umfallen. Aber inzwischen ist eine andere, weniger rabiate Beschreibung gängig: „Wie eine Mischung aus Autoscooter und Schach“, sagt Kripke.
Seit 2000 gehört der Sport zum paralympischen Programm. In manchen Ländern hat er sich auf faszinierende Weise in der Nische professionalisiert, ähnlich wie es in Deutschland beim Rollstuhlbasketball geschah, was in der Mehrzahl die weniger stark eingeschränkten Rollis spielen. Beim Rollstuhlrugby haben alle Spieler Einschränkungen an mindestens drei Extremitäten, viele sind querschnittsgelähmt. Den Sport betreiben in Deutschland geschätzt 300 Menschen, davon etwa 30 Frauen. Zum Vergleich: Rollstuhlbasketball spielen rund 2500 Menschen.

Athleten bei den Paralympics:Sportler, die Geschichten schreiben
Eine Transperson, die mit 50 erstmals gegen Frauen läuft, eine Taekwando-Kämpferin, die vor den Taliban floh – und der Michael Jordan des Rollstuhlbasketballs, der einfach nicht aufhört: Zehn Athletinnen und Athleten, die bei den Paralympics im Fokus stehen.
So sehr Deutschland in Paris Außenseiter ist, so ist das Team in einer Beziehung vielen anderen voraus: In Kripke und Mascha Mosel spielen zwei Frauen mit. Bloß im australischen Kader steht noch eine Frau mehr, drei der acht Teams bestehen nur aus Männern. In Zukunft könnte diese Statistik bedeutsamer werden.
Es gibt schon länger Forderungen an das Internationale Paralympische Komitee (IPC), den Frauenanteil bei Paralympics zu erhöhen. Im Fokus stehen dabei vor allem die Teamsportarten. Es gibt solche mit getrennten Wettkämpfen, Rollstuhlbasketball etwa. Es gibt Blindenfußball, was nur Männer spielen. Und es gibt Rollstuhlrugby für Männer und Frauen gemeinsam.
Sie hat ihren Sport nie anders kennengelernt als mit Männern in der Überzahl im gemeinsamen Team
Der Sportart kommt dabei eine zweischneidige Rolle zu. Die Integration der Frauen klappt nämlich durchaus vorbildlich. Es gibt ein nach Einschränkungen geordnetes Punktesystem von eins bis 3,5 – je geringer die Einschränkung, desto höher die Punktzahl. Pro Team, das auf dem Feld aus vier Spielern besteht, sind acht Punkte erlaubt. Frauen bekommen einen halben Punkt gutgeschrieben. Insbesondere jene mit hohen Einschränkungen wie Kripke, die 0,5 Teampunkte beansprucht, sind so unverzichtbar. Sie hat ihren Sport nie anders kennengelernt, als mit Männern in der Überzahl im gemeinsamen Team – und es hat sie nicht gestört.
Beim Rollstuhlrugby-Weltverband allerdings ist das Thema aktueller denn je. Das IPC, heißt es auf Anfrage, habe für die Teilnahme an den Spiele 2028 einen Aktionsplan eingefordert, wie gleiche Möglichkeiten für Frauen und Männer gewährleistet werden können. Daraufhin wurde eine Umfrage gestartet, eine Social-Media-Kampagne entworfen. Es soll ein Symposium geben, mehr Wettbewerbe nur für Frauen. Und es gibt Ergebnisse einer Forschungsarbeit, die den Vorschlag erbrachte, das Punktesystem zu überarbeiten, um auch Frauen mit geringeren Einschränkungen mehr Spielzeit zu ermöglichen.
Es klingt, als würden umtriebige Jahre zukommen auf eine paralympische Nischensportart, die so wichtig ist für die Menschen, die sie betreiben. Kripke sagt, sie widme dem Rugby fast ihre gesamte Freizeit, ihren Urlaub. Ihr wurde es zwischendurch zu viel, sie hörte auf. Dass sie zurückkam, nennt sie die beste Entscheidung ihres Lebens. Denn auch wenn ihre Erkrankung weiter voranschreitet, sie wurde besser, wertvoller für ihr Team.
Das Rollstuhlrugby-Turnier in Paris dauert bis Montag, alle Platzierungen werden ausgespielt. Für das deutsche Team bedeutet das noch ein paar Gelegenheiten, die Favoriten zu ärgern, die Stimmung zu genießen und für ihren Sport zu werben. „Wenn Sie von Menschen hören, die einen Unfall hatten“, sagt Britta Kripke, bevor sie sich in Richtung der Kabinen verabschiedet: „Erzählen Sie vom Rollstuhlrugby!“ Ob Frauen oder Männer, daran denkt sie in diesem Moment nicht.