Süddeutsche Zeitung

Paralympics:Influencer für Millionen

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Für viele Athleten sind die Spiele in Tokio das Ziel nach einer schwierigen Zeit. Der Para-Sport hat in der Pandemie viele Mitglieder verloren - das Fest in Tokio hat noch mal eine andere Bedeutung.

Kommentar von Sebastian Fischer, Tokio

Die Geschichte, wie Rudy Garcia-Tolson durch den ersten Pandemie-Sommer kam, ist eine ähnliche wie die von Katie Ledecky, nur dass es bei ihm etwas länger dauerte und eine Art Werbung brauchte. Ledecky, die erfolgreichste Olympia-Schwimmerin der Geschichte, trainierte im März 2020 in einem Hinterhof-Pool in Kalifornien, weil die Trainingsbäder geschlossen waren. Garcia-Tolson, paralympischer US-Schwimmer mit Prothesen an beiden Beinen, der für sein Comeback trainieren wollte, ging auf der Suche nach Wasser aus Mangel an Alternativen erst mal ins Meer surfen. Die New York Times berichtete darüber. Dann fand auch er einen Hinterhof-Pool zum Trainieren, bei Schauspieler David Duchovny, bekannt als "Hank Moody" aus der Serie "Californication". Der hatte den Artikel gelesen.

Garcia-Tolson hatte sich damals ausdrücklich nicht beschwert über die Situation, "ich bin niemand Besonderes", sagte der fünfmalige Paralympics-Medaillengewinner. Seine kleine Episode dient trotzdem als Beispiel, warum die am Dienstag eröffneten Spiele für Menschen mit Behinderung in Bezug auf das eine Jahr Pandemie-Verspätung und im Vergleich mit Olympia noch mal eine andere Bedeutung tragen. Warum sie eine andere Wirkmacht haben können, obwohl natürlich auch sie im Zeichen der Pandemie-Maßnahmen in Japan stehen werden.

Kugelstoßer Niko Kappel trainierte in seinem Keller

Natürlich haben die meisten paralympischen Athleten die Pandemie ähnlich kreativ überbrückt wie die olympischen Sportler. Der deutsche Paralympics-Sieger Niko Kappel zum Beispiel hat im März 2020 in seinem Keller ein Trainingsstudio eingerichtet, was als Kugelstoßer nicht ganz unproblematisch ist - die Wand, gegen die er die Kugel donnerte, grenzte allerdings nicht ans Nachbarhaus. Sein Training war erfolgreich. Kappel, 1,40 Meter groß, stieß die Kugel danach 14,30 Meter weit, weiter als je ein kleinwüchsiger Mensch zuvor.

Doch es gab auch vereinzelt andere Beispiele: Rollstuhlbasketballerinnen mit Querschnittslähmung, die auf Spiele verzichteten. Oder die Sportart Para-Boccia, die viele Athleten mit schwersten Behinderungen betreiben, und die deshalb von März 2020 an bis jetzt alle Wettkämpfe aussetzte. Vom deutschen Paralympics-Team in Tokio zählt rund ein Drittel nach eigenen Angaben zur Corona-Risikogruppe, wie eine Umfrage der Arbeitsgruppe "Inklusion im Sport" der Universität Paderborn ergab.

Während der Pandemie hat der Deutsche Behindertensportverband etwa 100 000 Mitglieder verloren - fast ein Sechstel

Und es gibt natürlich die Folgen in der Breite. In Deutschlands alternder Gesellschaft stieg schon vor der Pandemie die Zahl der Menschen mit Behinderung, die keinen Sport treiben, laut Teilhabebericht der Bundesregierung auf 55 Prozent. Während der Pandemie hat der Deutsche Behindertensportverband (DBS) in eineinhalb Jahren von zuvor mehr als 600 000 Mitgliedern rund 100 000 verloren, vor allem ältere Menschen im Reha-Sport. "Wir sind Pandemie-Opfer", sagte DBS-Präsident Friedhelm Julius Beucher schon im Frühjahr dem Deutschlandfunk.

Nachdem in England zu Beginn des Jahres Zahlen nahelegten, dass die Sport-Möglichkeiten für Menschen mit Behinderung im Lockdown eingeschränkt waren, sagte die britische Rollstuhlbasketballerin Sophie Carrigill dem Guardian, es fehle auch an Vorbildern, an Angeboten der während Corona so wichtigen Online-Fitnessindustrie etwa. "Du siehst keine einzige Person, die ein behindertengerechtes Workout vorführt", sagte sie. "Du siehst die ganzen Instagram-Blogger, die Workouts für die nicht-behinderte Bevölkerung machen. Wir haben einen langen Weg vor uns."

Die Paralympics, das drittgrößte Sportfest der Welt, als Inspiration für viele Millionen TV-Zuschauer, ob mit oder ohne Behinderung, sind auch diesmal ein sehr wichtiger Teil dieses Weges.

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