Süddeutsche Zeitung

Markus Rehm bei den Paralympics:Das Vermächtnis des Grenzspringers

Prothesen-Weitspringer Markus Rehm sprang in diesem Jahr schon weiter als der Olympiasieger, doch am olympischen Wettkampf durfte er nicht teilnehmen. Bei den Paralympics streitet er weiter für seine Sache - und für die, die nach ihm kommen.

Von Sebastian Fischer

Für den Wettkampf, von dem er gehofft hatte, es würde der größte in seinem Leben werden, hat sich Markus Rehm am Ende nicht mal den Wecker gestellt. Er schlief, als der Grieche Miltiadis Tendoglou vor drei Wochen mit 8,41 Metern Olympia-Gold im Weitsprung gewann, nachts zu deutscher Zeit. Erst am nächsten Morgen habe er die Ergebnisse angeschaut, erzählt Rehm, und daran gedacht, was möglich gewesen wäre. Er ist in diesem Jahr schon bei 8,62 Meter gelandet. Weltrekord im Weitsprung mit Prothese.

Bei den Paralympics in Tokio, die an diesem Dienstag beginnen, dürfte Rehm, 33, wieder einer der herausragenden Athleten sein und mit weitem Vorsprung die Goldmedaille gewinnen - alles andere wäre eine Sensation. Wenn er mit seiner Prothese abspringt, fliegt er seit Jahren viel weiter als seine Konkurrenz. Seit Jahren will er das auch bei Olympia zeigen. Er durfte nicht. Doch dafür zu kämpfen, das bleibt für ihn eine Lebensaufgabe.

Ein Telefonat zwei Wochen vor den Paralympics, das Interesse an Rehm ist groß: Eben war eine japanische Nachrichtenagentur dran, später will ihn die BBC sprechen. Die Paralympics, das sei "immer noch mein Hauptwettkampf. Ich will die Goldmedaille gewinnen. Ich bin paralympischer Athlet, das bleibt auch so", sagt er. Bei Olympia, "da ging es mir nicht um eine Medaille, da ging es mir um die Botschaft". Er findet, das Internationale Olympische Komitee (IOC) und der Leichtathletik-Weltverband World Athletics hätten ein scheinheiliges Verständnis von Inklusion. "Together", gemeinsam, das Wort gehört inzwischen zum Olympia-Slogan. Rehm findet: "Das wird nicht gelebt."

Es war Mitte Juli, als Rehm bekanntgab, für seine Teilnahme an den Spielen der Nicht-Behinderten vor den Sportgerichtshof Cas zu ziehen, wie es für Olympia 2012 in London der Prothesen-Sprinter Oscar Pistorius getan hatte - mit Erfolg. Es wirkte wie der finale Akt eines Streits, der seit 2014 andauert, seit Rehm die deutschen Meisterschaften der Nicht-Behinderten gewann. Doch seine Klage wurde abgeschmettert. Die Begründung des Cas steht noch aus. Sie sei in Arbeit, heißt es, erst gegen Ende August fertig. Mehr als einen Monat nach der Verhandlung. Es ist also offenbar immer noch kompliziert.

"Wenn ich in getrennter Wertung starte, wer fühlt sich da hintergangen?", fragt Rehm

Seit 2014 geht es in der Debatte um Rehm um einen möglichen Vorteil beim Absprung mit seiner Karbonprothese. Die Argumente sind mal biomechanisch anspruchsvoll, mal moralisch aufgeladen, der Streit wirkt endlos. Die mehrheitsfähige Meinung ist die, dass es sich beim Springen und Laufen auf Füßen und Prothesen um verschiedene Disziplinen handelt. Erst als 2020 eine umstrittene Regel des Weltverbands kippte, wegen der ein Athlet belegen musste, dass ihm sein Hilfsmittel keinen Vorteil bringt, schöpfte Rehm wieder Hoffnung. Seitdem liegt die Beweislast beim Verband, der für ein Startverbot einen Vorteil des Athleten nachweisen muss.

So komplex das alles klingt, so einfach scheint Rehms Kompromissvorschlag zu sein: Ein Start außerhalb der Wertung, der niemandem einen Platz wegnimmt. So ist es seit 2015 bei den deutschen Meisterschaften. So habe es selbst der Cas-Richter als beste Lösung vorgeschlagen, sagt Rehm. Die Verbände lehnten es ab. Er fragt: "Wenn ich in getrennter Wertung starte, wer fühlt sich da hintergangen? Geht die Strahlkraft olympischer Athleten verloren?"

World Athletics teilt auf Anfrage mit, ein Start in getrennter Wertung sei vom Cas nicht zu bewerten gewesen, da Rehm den Vorschlag abseits des Verfahrens vorgebracht habe. In seiner Klage hatte Rehm einen Start innerhalb, nur ersatzweise außerhalb der Wertung gefordert. Außerdem heißt es vom Verband, man warte noch auf die Cas-Urteilsbegründung.

Jemand, der aus einer anderen Perspektive und aus Erfahrung über die Sache sprechen kann, ist der Weitspringer Fabian Heinle, 27, Zwölfter bei Olympia in diesem Sommer. Davor gewann er zum vierten Mal Gold bei den deutschen Meisterschaften, er sprang 7,81 Meter weit. Rehm flog außer Konkurrenz auf 8,29 Meter.

"Ich springe gerne mit ihm, der sportliche Wettkampf ist supertoll", sagt Heinle. Er habe Verständnis dafür, dass Rehm für sein Startrecht streite: "Ich würde das wohl auch so machen". Er vermutet, dass die olympischen Athleten im Grunde nichts dagegen hätten, wenn Rehm außer Konkurrenz dabei wäre.

Allerdings betont Heinle auch, dass es sich um nicht vergleichbare Disziplinen handelt. Und er erzählt von einer deutschen Meisterschaft, bei der er den Titel gewann, was danach aber niemanden interessiert habe - die Fragen der Journalisten gingen alle an Rehm, der weiter gesprungen war. Wenn man als olympischer Athlet nur alle vier Jahre das Rampenlicht auf sich ziehe, das man für Sponsorenverträge braucht, wenn man dann also gewinne - und jemand anders bekäme womöglich die ganze Aufmerksamkeit? Das wäre schon ein Problem, sagt Heinle.

Eine aufwendige Studie konnte auch nicht belegen, ob Rehm einen oder keinen Vorteil hat

Rehm, das gehört zur Geschichte dazu, ist ein eloquenter Redner für seine Sache, geübt und gut beraten in der Zuspitzung: Seine Medienarbeit managt der frühere Diskuswerfer Robert Harting, schon zu aktiven Zeiten ein PR-Profi. "Bladejumper", so wie einst der "Bladerunner" Pistorius, zu dieser Eigenbezeichnung hat Harting Rehm ermutigt, international wurde er oft so genannt. Besonders in Japan wird er verehrt. Es war einst ein japanischer TV-Sender, der im Rahmen einer Dokumentationen eine aufwendige Studie über Rehm anstieß. In der ließ sich aber auch nicht belegen, ob er einen oder keinen Vorteil hat.

Wenn Rehm über Japan spricht, dann schwärmt er von der Sport-Euphorie der Menschen. Nach einem Weltrekordsprung in Maebashi 2018, sagt er, "war eine ältere Dame so begeistert, die hat sich fast überschlagen vor Freude und hat mir von der Tribüne ihren Schal runtergeworfen. Das hat mich echt gepackt. Das habe ich noch nie irgendwo anders erlebt."

Rehm spricht aber auch über die größere Sache, für die er in Tokio antreten will. "In Japan wurde sich viele Jahre nicht getraut, das Handicap nach außen zu tragen, da offen mit umzugehen", sagt er. Es gebe noch viel Potenzial für Verbesserungen. "Ich hoffe, dass die paralympischen Athleten das so ein bisschen hinterlassen können."

Etwas hinterlassen: Das wird Rehm auch als herausragendem paralympischem Athlet gelingen. Auch ohne bei Olympia zu starten. Bei den Spielen in Paris 2024 wäre er 36. "Vielleicht", sagt er, "kann man wenigstens für die nächsten Athleten den Weg ebnen". Das ist die zweite Ebene des Streits.

Es gibt nicht viele paralympische Athleten, die zwischen den Welten wandeln können wie Rehm. Bei Bayer Leverkusen, seinem Verein, wo Deutschlands paralympischer Leichtathletik-Nachwuchs ausgebildet wird, da spüren sie jedenfalls die Auswirkungen des Streits an der Spitze schon länger - auch im Nachwuchs. Seit Rehms Sieg bei den deutschen Meisterschaften 2014, sagt der Leverkusener Para-Sport-Geschäftsführer Jörg Frischmann, "ist die Teilhabe von Para-Sportlern an Wettkämpfen immer schwieriger geworden". Mal dürften sie mit Nicht-Behinderten starten, mal nicht. Oft seien die Kampfrichter unsicher. Die Regeldebatte, kritisiert Frischmann, sei auch auf nationaler Ebene nie zu Ende geführt worden.

Wer das manchmal zu spüren bekommt, ist auch der Leverkusener Sprinter Johannes Floors. Er ist der zweite herausragende deutsche Leichtathlet, der die Grenzen zu verwischen imstande ist. Er läuft mit Prothesen an beiden Beinen und hält in seiner Klasse die Weltrekorde über 100 und 400 Meter. Über 400 Meter hätte er mit seiner Bestzeit von 45,78 Sekunden bei Olympia nur knapp das Halbfinale verpasst.

Er hat derzeit keine Ambitionen, bei Olympia gegen Nicht-Behinderte anzutreten. Aber im Wettkampfalltag würde er das gerne tun, ohne sich Gedanken machen zu müssen. Insbesondere in den vergangenen eineinhalb Pandemiejahren war er darauf angewiesen, gegen Menschen auf zwei Beinen zu starten, um überhaupt Wettkämpfe zu haben, die im Para-Sport noch rarer waren als sonst. Doch Floors durfte nicht überall laufen. Von der Teilnahme an einem Wettkampf in Belgien erzählt er, als wäre es eine Ausnahme gewesen: "Es gab gar kein Problem, ich wurde auch nicht komisch angeguckt, weil ich eine Prothese trage. Ich wurde angeguckt wie ein 400-Meter-Konkurrent." Genau das wünsche er sich öfter, auch in Deutschland.

"Ein Trauerspiel" nennt Floors die Posse um das Cas-Urteil im Fall Rehm. Und ähnlich wie Rehm, der im paralympischen Weitsprung seinen Weltrekord "noch mal angreifen" will, nimmt auch Floors auf die 400 Meter in Tokio etwas Trotz mit an den Start. In den Bestenlisten des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV) wird er nicht geführt. Er sagt: "Ich habe schon vor, der schnellste deutsche 400-Meter-Sprinter dieser Saison zu sein." Schneller als alle anderen auf zwei Beinen, meint er.

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