Paralympics:Irdisches Gold

Der Weitspringer Markus Rehm gewinnt bei den Paralympischen Spielen in Rio de Janeiro mit für ihn mäßigen 8,21 Metern. Für den Kampf um einen Startplatz bei den Nichtbehinderten ist ihm das aber nützlich. Sein nächstes Ziel: Die WM 2017 in London.

Von Ronny Blaschke, Rio de Janeiro

Sicher ist er nicht. Zwischen jedem Versuch nimmt Markus Rehm eine freie Fläche in Beschlag und geht den Ablauf seines Sprunges durch. Er lockert seinen Körper, setzt sich hin, steht wieder auf, rudert mit den Armen. Dann muss er kurz stillstehen, wegen der Hymne eines Siegers auf der anderen Seite. Der nächste Sprungversuch, zwei Dutzend Kameras klicken, wieder wirkt Rehm nicht zufrieden. Seine Trainerin Steffi Nerius ruft ihm aus dem Unterrang einige Tipps zu. Rehm presst die Lippen zusammen, nickt kurz, schaut auf die Anzeigetafel. Wieder warten. Wieder konzentrieren.

Sicher ist er dann doch. Am Samstagabend wiederholte Rehm seinen paralympischen Weitsprungsieg in der Klasse T44, vor dem Niederländer Ronald Hertog und seinem deutschen Kollegen Felix Spreng. Mit seinem besten Sprung schaffte Rehm 8,21 Meter, er verbesserte den paralympischen Rekord damit um 86 Zentimeter. Er blieb aber unter seiner Bestleistung von 8,40 Metern, dem Weltrekord in seiner Klasse. Mit 8,21 Metern wäre er bei Olympia Fünfter geworden. Vor einem Monat gewann dort der Amerikaner Jeff Henderson, mit 8,38 Metern.

Man muss diesen Querverweis erwähnen, denn Rehm springt praktisch in einer eigenen Liga, man könnte sie so nennen: Paralympics Plus. Über Monate hatte er sich für einen Start bei Olympia eingesetzt, mit Interviews, Lobbyarbeit, einer biomechanischen Studie. Doch er konnte nicht zweifelsfrei beweisen, dass ihm die Prothese unterhalb des rechten Knies keinen Vorteil bringt. So gesehen, sind die 8,21 Meter ein diplomatisches Ergebnis: Weit genug, um bei Olympia mitzuhalten, aber nicht so weit, dass ein Vorteil naheläge. Befürworter und Gegner von Rehms Vorhaben dürften mit dem Resultat gut leben können, es macht eine komplizierte Geschichte nicht noch komplizierter.

Rio 2016 Paralympics

"Ich habe gezeigt, dass paralympische Athleten sich hinter olympischen Athleten nicht verstecken müssen. Das ist gelungen, und das ist auch die Message dieser Spiele" - Goldgewinner Markus Rehm.

(Foto: Jens Büttner/dpa)

Rehms nächstes Ziel: Die WM 2017 in London

Markus Rehm ist inzwischen einer der bekanntesten Individualsportler Deutschlands. Über ihn wurde eine ARD-Dokumentation gedreht und ein Zeit-Dossier geschrieben, er wird von einer Agentur vertreten und veranstaltet eigene Medientage, nur wenige Paralympier erhalten so viele Anfragen. Unter Sportlern ruft das Bewunderung hervor, aber auch Neid. Für Rehm wird es zunehmend schwer, selbst bei unbedeutenden Wettbewerben von Nichtbehinderten einen Startplatz zu bekommen. Einige olympische Leichtathleten haben sogar einen Boykott gegen ihn erwogen, weil sie sich gegenüber seinem Prothesenabsprung im Nachteil sehen. Öffentlich sagt das niemand - aus Furcht, als behindertenfeindlich dazustehen.

Die Verunsicherung reicht noch tiefer. Trainer aus dem Breitensport berichten, dass Veranstalter von inklusiven Sportfesten die wenigen Kinder mit einer Behinderung mitunter in einer Sonderwertung starten lassen wollen. Schließlich habe Rehm gezeigt, wie dominant man mit einer Prothese sein könne. Vom Deutschen Leichtathletik-Verband waren keine ranghohen Beobachter zu den Paralympics gereist. Sie werden trotzdem wieder mit Rehm ins Gespräch kommen müssen, denn der hofft auf einen Start bei der Leichtathletik-WM 2017 in London. Vielleicht sind die Umstände dafür nun sachlich und angemessen. Hätte Rehm sein paralympisches Gold mit 8,50 Metern gewonnen - die Einschüchterung von Konkurrenz und Verhandlungspartnern wäre nun wohl größer.

Auch beim Deutschen Behindertensportverband (DBS) ist Erleichterung zu spüren, dass Rehm in Rio nicht wie ein Außerirdischer gesprungen ist. Der DBS braucht Leitfiguren wie Rehm, deshalb hat er ihn bei der Eröffnungsfeier zum Fahnenträger ernannt. Der DBS kann es nicht ändern, dass der Behindertensport in der Öffentlichkeit alle vier Jahre auf einen elftägigen Rausch namens Paralympics reduziert wird, obwohl die große Mehrheit der rund 650 000 Verbandsmitglieder im Rehasport unterwegs ist, mit einem Durchschnittsalter von mehr als 60 Jahren. Markus Rehm ist für den DBS einer der wichtigsten Botschafter, um jungen Unfallopfern den Weg in ein aktives Leben zu ebnen. Von Kindern und Jugendlichen haben bundesweit sechs Prozent eine Behinderung. Bei ihnen liegt der Organisationsgrad in Vereinen bei vierzig Prozent. Doch diese Zahl steigt, auch durch Rehms Medienpräsenz.

Medaillenspiegel

Die 26 erfolgreichsten Nationen (nach 521 von 528 Wettbewerben)

Gold Silber Bronze

1. China 105 81 51

2. Großbritannien 64 39 44

3. Ukraine 41 37 39

4. USA 40 42 30

5. Australien 21 29 29

6. Deutschland 18 25 14

7. Niederlande 17 19 26

8. Brasilien 14 29 28

9. Italien 10 14 15

10. Polen 9 18 12

11. Frankreich 9 5 14

12. Neuseeland 9 5 7

13. Spanien 8 12 8

14. Kanada 8 10 11

15. Usbekistan 8 6 17

16. Nigeria 8 2 2

17. Kuba 8 1 6

18. Weißrussland 8 0 2

19. Südkorea 7 11 16

20. Iran 7 9 7

21. Tunesien 7 6 6

22. Südafrika 7 6 4

23. Thailand 6 6 6

24. Griechenland 5 4 4

25. Belgien 5 3 3

Slowakei 5 3 3

Er selbst ist nach dem Sieg am Samstag mit der deutschen Fahne durchs Olympiastadion gelaufen. Das wirkte nicht ausgelassen, sondern ein bisschen gezwungen. Man würde gern erfahren, wie es ihm geht, nach diesen aufreibenden Monaten. Wie einer der Besten darüber denkt, sich nicht mit den Besten bei Olympia messen zu dürfen. Rehm sagt dann, was er immer sagt: Er sei ein paralympischer Athlet, und als solcher durfte er eine erfolgreiche Gruppe in Rio vertreten. Die deutschen Leichtathleten gewannen 25 Medaillen, neun in Gold. Ohne sie wäre für den DBS nicht der sechste Platz im Medaillenspiegel herausgekommen.

Markus Rehm wird für sein Startrecht bei Nichtbehinderten weiter streiten. Und weiter springen.

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