Süddeutsche Zeitung

Paralympics:In seinem Element

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Der Nürnberger Schwimmer Taliso Engel folgt im Becken der schwarzen Linie und fühlt sich frei dabei. In Tokio zählt er zu den deutschen Medaillenhoffnungen.

Von Johannes Müller

Taliso Engel ist kein Lautsprecher, die leisen Töne liegen ihm mehr. Seine höfliche Zurückhaltung in der Öffentlichkeit legt der 19-jährige Paraschwimmer auch dann nicht ab, wenn es große Erfolge zu feiern gibt. Wie zuletzt Ende Juni bei den Internationalen Deutschen Meisterschaften (IDM) in Berlin. Gleich zweimal schwamm Engel dort zu einem Weltrekord über 50 Meter Brust, durch die Halle dröhnte mehrmals der Gewinnerschlager "Stand Up For The Champions". Doch von Überschwang konnte bei Engel nicht die Rede sein; es habe sich im Becken gar nicht so gut angefühlt, befand er gar anschließend.

Die Zurückhaltung erklärt sich wohl dadurch, dass der Nürnberger überzeugt ist, noch mehr leisten zu können. "Ich bin schon mal schneller geschwommen, aber nur inoffiziell", sagt er. Etwas Besonderes sei dieser erste persönliche Weltrekord natürlich trotzdem, er habe sich riesig gefreut. Dabei hatte Engel in den Wochen zuvor relativ wenig trainiert, die Prüfungen für das Fachabitur standen an: "Da war der Fokus erstmal auf Schule und nicht auf dem Training." Das nun hinter sich zu haben, wirke befreiend. Er konzentriere sich voll und ganz auf den Sport, zumindest bis zu den Paralympics in Tokio, die am 24. August beginnen. Anschließend geht es zurück auf die Schulbank, Engel möchte im kommenden Jahr sein Abitur machen.

Mit dem Weltmeistertitel sei Engel in der Spitze angekommen, sagt die Bundestrainerin

Taliso Engel tritt bei Paraschwimmwettkämpfen in der Startklasse 13 an, in die Schwimmer mit stark eingeschränkter Sehfähigkeit eingestuft werden. Sein Blick geht meist zur Seite, weil er in den Augenwinkeln das größte Sehvermögen hat. Auf dem linken Auge beträgt es sechs bis acht Prozent, auf dem rechten sind es drei bis vier Prozent; das reicht aus, um sich im Becken zurechtzufinden. "Die schwarze Linie am Boden ist meine Orientierung, die sehe ich ganz gut", erklärt er. Schwierigkeiten bereite vor allem der Anschlag, "weil ich die Beckenwand erst spät sehe und es dann schwierig ist, meine Züge richtig anzupassen". Dadurch verliere er manchmal noch ein paar Zehntel.

Das Wasser war seit jeher Engels Element. Im Schwimmbecken fühle er sich wirklich wohl und frei, sagt er, "das ist eigentlich das Besondere am Schwimmen für mich". Und große internationale Erfolge ließen nicht lang auf sich warten. Bei den Weltmeisterschaften 2019 wurde Engel - zu seiner wie zu aller Überraschung - Weltmeister über die 100 Meter Brust, da war er 17 Jahre alt. Im Mai diesen Jahres kam der Europameistertitel hinzu, ebenfalls über die 100 Meter Brust, Engels Paradedisziplin. Bei den Paralympics gehört er zu den deutschen Medaillenhoffnungen.

Bundestrainerin Ute Schinkitz sagt: "Mit dem Weltmeistertitel 2019 ist Taliso in der Spitze angekommen." Besonders beeindrucke sie Engels Persönlichkeitsentwicklung. Er verfolge seine Ziele mit großem Ehrgeiz, ohne dabei verbissen zu werden. Er lebe nicht nur für den Sport; Freunde, Familie und Schule nähmen ebenfalls wichtige Plätze ein. Engel selbst scheint so einen Weg gefunden zu haben, mit dem stetigen Leistungsdruck umzugehen. "Es ist wichtig, dass man immer wieder kürzere Pausen nimmt, den Kopf frei kriegt und andere Dinge macht als Sport", sagt er. Die Zeit mit Freunden bringe ihn auf andere Gedanken, sie sei eine Möglichkeit, dem Leistungssport für eine Weile zu entfliehen.

Eine entscheidende Rolle in Taliso Engels sportlicher Entwicklung spielt seit jeher seine Mutter Cosima. Sie fahre ihn nach wie vor zu Trainings und helfe ihm, den häufig durchgetakteten Alltag zu managen, erzählt er. Sie war es auch, die ihn 2013 zu seinen ersten IDM begleitete, weil sein damaliger Nürnberger Trainer für den Parasport kein sonderliches Interesse aufgebracht habe. Einen bayerischen paralympischen Stützpunkt gab es zu jener Zeit auch nicht, also schloss sich Engel dem Para-Kader Nordrhein-Westfalens an und geht seit 2015 bei paralympischen Wettkämpfen für den TSV Bayer 04 Leverkusen ins Becken. Seine Trainingseinheiten absolviert er aber nach wie vor zu Hause in Nürnberg, beim 1. FCN, für den er zudem Wettkämpfe gegen Athleten ohne Behinderung schwimmt.

"Über die 100 Meter Brust will ich unter den Top Drei sein", sagt Engel

Engels Heimtrainer beim Club ist seit knapp zwei Jahren Jochen Stetina. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern ist Stetina hauptamtlich für die Trainingsgruppe um Engel verantwortlich, und die intensivere Zusammenarbeit zahlt sich aus. "Seitdem er hier ist, läuft es allgemein viel besser bei uns", sagt Engel, die Konstanz sei sehr wichtig, um ein vertrauensvolles Verhältnis aufzubauen: "Wir sind sehr gut miteinander und können über alles reden." Stetina sagt über Engel, dass er ein fordernder Sportler sei, dass mache die Trainings jedoch leichter und angenehmer. "Er gibt relativ viel Feedback, was die technische Ausführung von Startsprüngen oder Wenden angeht. So kann man sehr gut an Kleinigkeiten arbeiten, weil er sehr viel hinterfragt, was er tut."

Mit Blick auf die Paralympics hat Taliso Engel bereits ein klares persönliches Ziel definiert: "Über die 100 Meter Brust will ich unter den Top Drei sein." Ähnlich konkrete Medaillenzielsetzungen gebe es vonseiten des Verbands nicht, weder für Engel noch für ein anderes Mitglied der Mannschaft, sagt Bundestrainerin Ute Schinkitz. Mit Blick auf Engel sagt sie aber auch: "Wenn jemand schonmal eine Medaille in der Hand hatte, da brauchen wir uns nichts vormachen, dann möchte er bei den Paralympics gern wieder eine haben."

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