Paralympics:"Die Jungschen müssen erst mal vorbeikommen"

IPC Athletics World Championships - Day Seven - Evening Session

Marianne Buggenhagen bei der WM 2015 in Katar.

(Foto: Francois Nel/Getty Images)

Bevor Marianne Buggenhagen nach den Paralympics mit 63 aufhört, will sie am Samstag das Diskuswerfen gewinnen.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Vor etwa einem Monat hat Marianne Buggenhagen festgestellt, dass ihr der Leistungssport keinen Spaß mehr macht. Jedenfalls nicht mehr so wie früher. "Ich merke, dass ich nicht mehr weiterkomme", sagt sie. Buggenhagen denkt jetzt öfter an ihren Garten im heimischen Buch bei Berlin, den will sie endlich mal ein bisschen umgestalten. Sie träumt davon, einen Angelschein zu machen und von gemeinsamen Reisen mit ihrem Ehemann, der genau wie sie querschnittsgelähmt ist. Die beiden sind seit fast vier Jahrzehnten verheiratet, "davon war mein Mann bestimmt die Hälfte der Zeit alleine", sagt Buggenhagen. Sie selbst verbrachte einen Großteil ihres Lebens in Krafträumen und reiste als Sportlerin um die Welt. Es hat sich gelohnt, kein Zweifel. Sie sammelte im Diskuswerfen und Kugelstoßen neun Mal Gold und je zweimal Silber und Bronze bei Paralympischen Spielen ein, dazu 23 WM- und acht EM-Titel sowie 150 DDR-Meisterschaften in der Leichtathletik, im Schwimmen, im Tischtennis, im Rollstuhl-Basketball. Das stand einmal im Guinness-Buch der Rekorde. Alles schön und gut, aber jetzt reicht es ihr so langsam. Es soll nachher keiner sagen: "Hätte die Alte doch schon fünf Jahre früher aufgehört."

All das sind sehr nachvollziehbare Gedanken einer weißhaarigen Frau, die im Frühjahr ihren 63. Geburtstag gefeiert hat. Umso dringender stellt sich die Frage, weshalb sie jetzt doch nach Rio gekommen ist, um ein letztes Mal ihren Diskus zu schleudern. Warum tut sie sich das an? Die Schinderei im Training, die erhöhte Verletzungsgefahr ("Meine Sehnen und Bänder sind ja genau so alt wie ich"), eine weitere lange Reise ohne ihren Mann. Buggenhagens Wettkampf findet am Samstag statt, seit zwei Wochen wartet sie im weitgehend schattenfreien Athletendorf auf ihren Einsatz. Sie zählt dort die Stunden, bis es endlich losgeht, damit es endlich vorbei ist. Die Antwort ist denkbar simpel: Weil sie wahrscheinlich gewinnen wird. Das kann sich eine auch noch so müde Sportlerin nicht entgehen lassen.

"Hätte ich den Sport nicht gehabt, wäre ich im Pflegeheim gelandet."

Laut offizieller Sprachregelung trifft sich in Rio gerade die Jugend der Welt. Buggenhagen sagt milde lächelnd: "Ich begleite eher die Jugend der Welt." Einige Gegnerinnen könnten ihre Enkelkinder sein. Wenn die heutige Sportjugend im paralympischen Dorf mit ihren Smartphones hantiert und Selfies aus der nie abreißenden Athletenschlange bei McDonald's verschickt, auch dann weiß eine Frau mit Mitte 60, dass es allmählich an der Zeit ist, sich was anderes zu suchen. Andererseits stellen sich die Prognosen für den Wettkampf im Olympiastadion auch Sicht von Buggenhagen halt so dar: "Die Jungschen müssen erst einmal an mir vorbeikommen."

Man kann darüber streiten, ob es für diese Ausnahmeathletin spricht oder eher gegen die Konkurrenz, dass sie in einem Alter, in dem andere in Rente gehen, immer noch zu den Besten der Besten gehört. Vermutlich ist weder das eine noch das andere falsch. Buggenhagen sagt ja selbst: "Eine Medaille kann ich fast versprechen."

Sie wehrt sich trotzdem gegen den Verdacht, wonach das Niveau in der Weltspitze überschaubar sei. Vor einigen Jahren habe sie mal bei einem Schauwettkampf gegen den Kugelstoßer Ulf Timmermann und den Diskuswerfer Udo Beyer mitgemacht. Beide Olympiasieger hätten sich für dieses Experiment in einen Rollstuhl gesetzt. "Hab' beide geschlagen", erzählt Buggenhagen. Sie sagt, sie lebe nicht von ihrer Kraft, sondern von Technik und Erfahrung. Vor ihren Würfen guckt sie sich den Wind und die Thermik im Stadion an. Wenn sie einen Diskus in die Hand nimmt, weiß sie bei der ersten Berührung, ob er was taugt oder ob es besser ist, einen anderen zu nehmen.

Marianne Buggenhagen sitzt im Rollstuhl, seit sie 23 ist. Es begann mit einem Bandscheibenvorfall, der mit einer Querschnittslähmung endete. In ihrer Autobiografie steht der viel zitierte Satz: "Wenn ich den Sport nicht gehabt hätte, wäre ich im Pflegeheim gelandet oder asozial geworden." 1992 in Barcelona nahm sie erstmals an den Paralympics teil. Zwei Jahre später wurde sie zur Sportlerin des Jahres gewählt, vor Franziska van Almsick, Steffi Graf und Katja Seizinger. "Alle anderen sind ins Sportstudio eingeladen worden und ich ins Gesundheitsmagazin. Das sagt eigentlich alles über den Stellenwert des Behindertensports damals."

Das habe sich stark gebessert, das Publikum wächst, die Medien berichten jetzt verstärkt über die Leistungen der Athleten und nicht mehr "mit so einem Touch von Reha-Sport", findet Buggenhagen. Nach dem letzten Rio-Kraftakt kann sie sich deshalb zufrieden um den Angelschein, den Garten und den Jörg kümmern. Und wenn sie die Sache genau betrachtet, war auch ihre Athletenkarriere nur eine Episode unter vielen in ihrem Leben. Sie hat ja erst mit 37 mit dem Leistungssport angefangen. "Ich habe also gar nicht sooo viele Wettkampfjahre auf dem Buckel", sagt Buggenhagen: "Nur 26."

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