Süddeutsche Zeitung

Paralympics:Auf der Suche nach der Jugend

Lesezeit: 5 min

Nachwuchsförderung ist eine der größten Herausforderungen für den Behindertensport in Deutschland. Die Beispiele von Biathletin Leonie Walter und Skifahrer Christoph Glötzner zeigen, wie es funktionieren kann.

Von Sebastian Fischer

Der Skilanglauf-Trainer Albert Kürner hatte das bislang immer für eine Floskel gehalten, die Profisportler nach Erfolgen in Mikrofone sprechen: dass sie noch nicht "realisieren", was sie gerade erreicht haben. Am Dienstag dieser Woche wusste er dann, wie sich das anfühlt. Da habe ihm der Vereinsvorsitzende vom Skiclub St. Peter im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald von jener Goldmedaille berichtet, die Leonie Walter, 18, bei den Paralympics in Peking gewonnen hatte, im Biathlon der Athletinnen mit Sehbehinderung über zehn Kilometer. Kürner brauchte dann etwas Zeit, bis er seinem Chef sagte, er werde einen halben Tag Urlaub nehmen. Die Begründung: "Heute ist kein Tag wie jeder andere."

Kürner, 59, war Leonie Walters erster Trainer. "Der tollste Mann im Skiclub St. Peter", wie Walters Mutter Renate sagte, weshalb Kürner am Dienstag auch dem SWR ein Interview gab. Er sei gefragt worden, ob er stolz sei, erzählt er. Aber "Stolz", findet er, "hat immer den Beigeschmack von Überheblichkeit". Kürner sagt: "In erster Linie freue ich mich für die Leonie."

Die Geschichte von Leonie Walter, die mit einer Sehbehinderung geboren wurde, mit sieben Jahren das Skilanglaufen begann und in ihrem Heimatverein gefördert wurde, ist eine von vielen Sportlerinnenbiografien bei den Paralympics, die an diesem Wochenende zu Ende gehen. Zugleich steht die Geschichte auch exemplarisch dafür, wie Sport für Menschen mit Behinderung in Deutschland funktionieren kann. Und wie einem Problem begegnet werden kann, auf das der Deutsche Behindertensportverband (DBS) oft hinweist.

Über Walters Weg sagen sie im Verband: "Die Vorgehensweise wünschen wir uns genau so."

DBS-Präsident Friedhelm Julius Beucher hat in den vergangenen Jahren kaum eine Gelegenheit ausgelassen, um zu erwähnen, dass der Para-Sport mehr Jugend braucht. Sonst fehle es in Zukunft an Vorbildern, um Menschen mit Behinderung zum Sporttreiben zu motivieren. Es ist deshalb natürlich im Sinne des Verbands, dass zwei Teenager in den vergangenen Tagen einen Großteil der deutschen Erfolge in Peking holten: Stand Freitag gewannen Linn Kazmaier, 15, und Walter, auch begünstigt durch den Ausschluss Russlands, zusammen acht Medaillen. Über Walters Weg sagt Michael Huhn, der Nachwuchs-Bundestrainer Para Ski-nordisch: "Die Vorgehensweise wünschen wir uns genau so."

Albert Kürner hatte nicht viel Vorerfahrung im Behindertensport, jedenfalls keine "spezielle Ausbildung", wie er sagt, als Leonie Walter, die nur ein paar Prozent Sehkraft hat, als Kind zum Skiclub St. Peter kam. Das Langlaufen klappte trotzdem, wenn Kürner ihr vorauslief. Er habe sich irgendwann bei den Wettkämpfen selbst eine Startnummer genommen, damit sich die Leute nicht mehr wunderten, was er da machte. Die Arbeit mit den anderen Kindern in der Mannschaft habe er manchmal unterbrechen müssen, um mit Leonie zu laufen. Eine Herausforderung "in Anführungszeichen", so nennt er das rückblickend.

Irgendwann sprach Kürner mit Michael Huhn, dem Nachwuchs-Bundestrainer am Stützpunkt in Freiburg. Dort sind die Bedingungen professionell, es gibt die nahe Loipe am Notschrei-Gebirgspass, einen großen Kraftraum, ein Skirollerlaufband. Seit sie 15 ist, trainiert Walter dort. Seit eineinhalb Jahren geht sie aufs Sportinternat. Ihre Mutter sagt: "Wir sind wirklich sehr glücklich als Eltern."

Wie relevant solche Biografien für den Verband sind, wurde am Freitag noch mal deutlich: Da gab Martin Fleig, 32, sein Karriereende bekannt, der Fahnenträger bei der Eröffnungsfeier, Biathlet und Langläufer, Rollstuhlfahrer, Goldmedaillengewinner von Pyeongchang 2018, Silbermedaillengewinner diesmal. Wieder ein Athlet weniger.

Die Para-Alpinen bereiten dem Dachverband die größeren Sorgen

Um Nachfolger zu finden, wird im Para-Sport inzwischen mehr getan. Stellen für Trainer in den Landesverbänden werden geschaffen, sogenannte Talentscouts beschäftigt. Die Idee stammt aus Nordrhein-Westfalen: Eine Person vernetzt sich mit Selbsthilfegruppen, Schulen und Vereinen und sorgt dafür, dass Werbung da ankommt, wo sie ankommen soll. Auch, damit Menschen mit Behinderungen überhaupt von passenden Sport-Angeboten erfahren. Weitere Bundesländer zogen nach, unter anderem Baden-Württemberg und Bayern.

In den nordischen Disziplinen, sagt Michael Huhn, sei der größte Aufholbedarf der, dass mehr Athleten jenseits von Freiburg den Weg in die Nationalmannschaft finden. Die größeren Sorgen hat dem DBS in den vergangenen Jahren der alpine Wintersport bereitet. 2018 war die Seriensiegerin Anna Schaffelhuber zum letzten Mal bei Paralympics dabei und kritisierte, dass es an Nachwuchs fehle. Seit 2019 gibt es eine Nachwuchs-Bundestrainerin.

Maike Hujara war früher schon für die paralympischen Skifahrer zuständig, dann wechselte sie zum Deutschen Skiverband. Als sie vor drei Jahren in neuer Funktion mit Verantwortung für den Nachwuchs zurückkehrte, musste sie erst mal viel Aufbauarbeit leisten. So klingt es jedenfalls, wenn sie davon erzählt.

Sie habe eine Sichtung veranstaltet, drei Tage im Kühtai-Skigebiet in Tirol, und jeden mitgenommen, den sie kannte. Am ersten Tag seien neun Teilnehmer dabei gewesen, am zweiten zwölf. Ihr erster Schritt danach: ein Team aufbauen, Rennen organisieren, Rennen der Nichtbehinderten für Jugendliche mit Behinderung öffnen. Schritt zwei: Mit den Landesverbänden an Talenttagen arbeiten, Nachwuchs finden, mit Eltern sprechen.

Ihr langfristiges Ziel ist eine lückenlose Struktur vom ersten Skifahren bis in die Nationalmannschaft. Bei den Paralympics 2026 soll das deutsche Team größer sein als diesmal, sechs Athleten im Ski alpin umfasst es insgesamt. Das kurzfristige Ergebnis der Förderung sind zwei Talente in Peking: Leander Kress, 21, und Christoph Glötzner, 18, die beide auf einem Bein fahren.

Wenn man Glötzner fragt, was sich durch das Nachwuchsteam für ihn verändert hat, sagt er: "Es ging richtig was vorwärts, ich habe das Skifahren noch mal ganz anders gelernt." Hujara beziffert den Unterschied zwischen der Förderung im bayerischen Landesverband, die es vorher gab, und jener im Nationalteam, mit zehn statt drei Trainingslehrgängen. Sprich: 50 statt zwölf Skitage.

Die Herausforderungen für paralympischen alpinen Skisport sind groß: Barrierefreiheit ist am Berg oft utopisch, das Material ist teuer. Ein Monoskibob, wie ihn Rollstuhlfahrerin Anna-Lena Forster benutzt, die Fahnenträgerin mit Fleig bei der Eröffnungsfeier und zweite deutsche Goldmedaillengewinnerin in Peking, kostet so viel wie ein Familienwagen. Und das Skifahren mit Sehbehinderung ist wohl eine der faszinierendsten, am schwersten vorstellbaren Leistungen bei Winter-Paralympics überhaupt. Aber es funktioniert, betont Hujara, wenn man Guides findet, die vorausfahren.

Sie erzählt von einem Talenttag in Winterberg, 60 Teilnehmer seien dort gewesen, das Material dafür wurde bereitgestellt. Das Können eines Skifahrers mit Sehbehinderung sei derart markant gewesen, dass er gleich zum Training mit ihrem Team mitgekommen sei und bald darauf sein erstes Rennen fuhr.

Viel hängt auch vom Engagement der Familien ab

Glötzner und Kress haben in Peking keine Medaillen gewonnen, im Fall von Kress hatte das auch mit der Klassifizierung zu tun: Einbeinige Athleten haben es schwer mit ihrem Zeitfaktor gegen die auf andere Weise eingeschränkte Konkurrenz auf zwei Beinen. Glötzner wiederum verletzte sich vor seinem ersten geplanten Start im Training. Erfahrungen sammeln, das war sein Ziel in Peking.

Wie die Geschichte der Biathletin Leonie Walter, hat auch die von Glötzner etwas Exemplarisches. Es geht um Engagement, in seinem Fall ist es jenes der Familie, wie Nachwuchstrainerin Hujara betont. Glötzner verlor sein Bein bei einem Unfall mit einem Rasenmäher-Traktor im Alter von drei Jahren. Rund ein halbes Jahr nach den Operationen fuhr er mit einem Ski und zwei Krücken im Bayerischen Wald den Steinberg hinab.

Inzwischen trägt Glötzner nicht nur sein eigenes Können zur Zukunft des paralympischen Sports bei. "Ein achtjähriger Junge, der auch bloß ein Bein hat, war Zuschauer bei den bayerischen Meisterschaften", erzählt er. "Seitdem sind unsere Familien in Kontakt. Ich hab ihm meinen Skikeller gezeigt und Skikrücken, die man so gar nicht mehr kriegt." Die habe er dem Jungen vermacht. "Damit er trainieren kann."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5546033
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.