Paralympics:Besondere Leitfiguren

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Der Vorläufer und sein Sportler: Lutz Klausmann (rechts) bereitet dem Biathleten Nico Messinger den Weg auf der Strecke von Pyeongchang. (Foto: Jan Woitas/dpa)

Zwanzig Prozent besser: Begleiter von sehbehinderten Athleten müssen sich zurücknehmen - und vermissen öffentliche Wertschätzung.

Von Ronny Blaschke, Pyeongchang

Vielleicht hätte es Martin Härtl zu den Olympischen Spielen 1996 nach Atlanta geschafft. Anfang der neunziger Jahre zählte er in der Leichtathletik zu den großen Lauftalenten. Doch mit 17 stürzte er von einer Kletterwand neun Meter tief auf den harten Boden; er zog sich innere Blutungen zu, seine Beine waren gebrochen, ein Handgelenk war es auch. An Spitzensport war nicht mehr zu denken.

Olympia war auch das Fernziel von Lutz Klausmann. Tag für Tag durchmaß er als Jugendlicher die Loipen des Schwarzwaldes, doch irgendwann wurde er nicht mehr in den Landeskader Baden-Württembergs berufen. Sein Talent war beachtlich, aber für die Weltspitze reichte es nicht.

Wenn man Martin Härtl, 43, und Lutz Klausmann, 25, nun in Pyeongchang gegenüber sitzt, dann vermitteln sie nicht den Eindruck, als sei ihnen etwas Großes verloren gegangen. Sie sprechen nicht über Rekorde und Medaillen. Sie erzählen, wie es ist, sich selbst zurückzunehmen. Zu Gunsten eines anderen. Martin Härtl ist Begleitläufer der sehbehinderten Biathletin Clara Klug, Lutz Klausmann hat die gleiche Rolle für Nico Messinger. Gemeinsam bestreiten sie ihre ersten Paralympics. Als Leitfiguren der besonderen Art.

Martin Härtl ist vor sechs Jahren mit Clara Klug zusammengetroffen, da war sie noch nicht volljährig. Als Trainer des Behindertensportverbandes in Bayern wollte er jemanden zu den Weltspielen bringen; die talentierte Klug schien ihm die aussichtsreichste Kandidatin zu sein. Sie lernten sich kennen, stimmten sich ab, erhöhten das Trainingspensum von Jahr zu Jahr, auf nun fast zwanzig Stunden pro Woche. Einige Stunden trainiert Härtl allein, um seinen Leistungsvorsprung zu halten. Als Begleitläufer müsse man zwanzig Prozent besser sein, sagt er, ideal seien dreißig.

Es gab Wochen, da verbrachte Härtl mit Klug mehr Zeit als mit seiner Familie. Aber nur so entsteht Vertrauen, das sie auf der Strecke brauchen. "Ich laufe die Rennen aus der Sicht von Clara", sagt Härtl. Er voran, sie im Windschatten hinterher. Klug erhält kurze und laute Hinweise über Richtung und Schneeprofil. So kann sie auch bei steilen Abfahrten noch einmal das Tempo beschleunigen. Meistens klappt das auch in Pyeongchang ganz gut, wie ihre Bronzemedaille über zehn Kilometer zeigt. Einmal ging es aber auch schief. Gleich im ersten Rennen über sechs Kilometer schaute Härtl nach hinten und übersah eine unebene Stelle im Schnee. Er stürzte, sie stürzte über ihn.

"Das kommt vor", sagt Lutz Klausmann, "aber je näher wir beieinander sind, desto ökonomischer ist es." Klausmann hatte sich noch nicht mit Paralympics beschäftigt, als er in der Oberstufe von seinem Lehrer davon erfuhr. Er fand das ganze spannend und bot beim Leistungsstützpunkt in Freiburg seine Unterstützung an. Klausmann lief erst mit Vivian Hösch, dann mit Willi Brem, seit vier Jahren ist er an der Seite von Nico Messinger.

Sie sind etwa gleich alt, das erleichtert die Sache, sagt Klausmann. In den vergangenen vier Monaten verbrachten sie kaum einen Tag ohne einander, selbst nach dem Training gingen sie ins Thermalbad oder haben gekocht. Dieses Verständnis überträgt sich auf den Biathlon-Wettkampf. Nur am Schießstand muss Klausmann zurücktreten und darf keine Hinweise geben. Messinger richtet sich beim Zielen nach akustischen Signalen. Strafrunden müssen sie dann gemeinsam bestreiten. "Ein guter Begleitläufer fällt gar nicht auf", sagt Klausmann.

Martin Härtl und Lutz Klausmann stehen stellvertretend für rund sechshundert Trainer, Betreuer, Mediziner und technische Assistenten, die den sportlichen Betrieb bei den Paralympics möglich machen. Auf einen Athleten kommt im Durchschnitt ein Betreuer, der Aufwand ist zahlenmäßig größer als bei Olympia. Den zwanzig deutschen Paralympiern stehen in Pyeongchang 34 Betreuer gegenüber. "Die Anforderungen bei Winterspielen sind wesentlich größer", sagt Karl Quade, Chef de Mission des deutschen Teams. Er meint vor allem den Transport von Rollstuhlfahrern in den Bergen oder die intensive Materialwartung. Bei Sommer-Paralympics darf die Zahl der Betreuer nicht höher als sechzig Prozent der Athleten liegen.

Doch was ist Staat und Sport diese Begleitung wert? "Auch für den Partner im Team müssen Anreize geschaffen werden" - diesen Satz sagte Thomas Friedrich schon 2010, nachdem er als Begleitläufer mit Verena Bentele fünfmal Gold in Vancouver gewonnen hatte. Der Deutsche Behindertensportverband vergaß damals, Friedrich zu einer Gala einzuladen. Seitdem spricht Verbandspräsident Friedhelm Julius Beucher die Begleiter offensiv an. Doch einen Durchbruch in der Förderung hat es seitdem nicht gegeben. Eine Angliederung an eines der Bundesministerien ist bisher nicht möglich gewesen. "Aber wird sind an diesem Thema dran", sagt Beucher.

"Wir sind ein Team", sagt Härtl und findet: "Von Begleitung kann kein Rede sein."

Martin Härtl hat es da besser, als Zollbeamter mit zwanzig Jahren Berufserfahrung kann er sich Sonderurlaub nehmen. Mit Blick auf Peking 2022 wollen er und Clara Klug das Trainingspensum auf dreißig Stunden erhöhen. "Wir sind ein Team", sagt er, "von Begleitung kann kein Rede sein."

Lutz Klausmann schließt gerade sein Studium der Finanz- und Versicherungsmathematik ab. Für den Sport hatte er ein Stipendium erhalten, seine Professorin findet sein Engagement gut. Demnächst möchte er sich auf den Job konzentrieren, dann beginnt für Nico Messinger die Suche nach einem Partner aufs Neue. Aber die Entwöhnung soll langsam vorangehen. Erstmal fliegen sie gemeinsam in den Urlaub nach Thailand.

© SZ vom 16.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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