Léon Schäfer weiß, wie sich Erfolge in Paris anfühlen: Bei den Weltmeisterschaften der paralympischen Leichtathletik im vergangenen Jahr gewann er den Weitsprung in der Klasse der einseitig über dem Knie amputierten Athleten, über 100 Meter wurde er Dritter. 2023 wurde er zu Deutschlands Para-Sportler des Jahres gewählt. In diesem Jahr gewann der 27-Jährige bei der WM zweimal Gold – und er hat sich das auch für seine dritten Paralympics vorgenommen, die in zwei Wochen in Paris beginnen (28.8 – 8.9.). Nicht nur deshalb möchte er, dass dort viele zuschauen.
SZ: Herr Schäfer, haben Sie in den vergangenen zwei Wochen viel Olympia geschaut?
Léon Schäfer: Täglich! Das Stadion zu sehen, die Fans, die lilafarbene Laufbahn, die Wettkämpfe ... Olympia, das ist einfach noch mal ein anderer Film – und hat die Vorfreude auf die Paralympics noch mal gesteigert.
Sie sprechen das Publikum an. Der Ticketverkauf für die Paralympics läuft etwas schleppend, die Hälfte aller Karten ist noch zu haben. Wird aus Ihrer Sicht genug Werbung dafür gemacht, dass nach Olympia noch etwas kommt?
Es könnte definitiv mehr sein. Ich hoffe, das wird jetzt noch mal etwas angekurbelt. So voll wie bei Olympia wird das Stadion wohl nicht. Aber von der Stimmung wird es bestimmt ähnlich werden.
Für Sie sind es bereits die dritten Spiele. Erleben Sie es noch, dass Sie erklären müssen, was die Paralympics sind?
Schon, aber es ist deutlich weniger geworden. Die Leute können inzwischen mit dem Begriff etwas anfangen. Aber es geht auch diesmal wieder um noch mehr Sichtbarkeit für den Behindertensport. Wir wollen drauf aufmerksam machen: Hey, die Paralympics sind auch da! Ich finde, wir sind vielleicht die krasseren Sportler mit unseren Schicksalen, mit denen wir trotzdem auf dieser Bühne performen. Aus unseren Biografien kann man als Zuschauer noch mehr Inspiration ziehen. Deshalb wollen wir eine Show bieten, Schlagzeilen machen mit guten Wettkämpfen. Und dann hoffe ich natürlich auch, dass die Leute uns zuhören, wenn wir Interviews geben.
Ihnen wurde als Jugendlicher der rechte Unterschenkel samt Knie wegen einer Knochenkrebserkrankung amputiert. Stört es Sie, wenn Sie Ihre Lebensgeschichte erzählen müssen, um Aufmerksamkeit für Ihren Sport zu bekommen?
Teils, teils. Einerseits habe ich es so oft erzählt, dass ich es bald selbst nicht mehr hören kann. Aber wenn sich jemand für meinen Weg interessiert, dann habe ich dafür natürlich Verständnis und erzähle es gerne.
Eine Geschichte, die aus Ihrem Lebenslauf oft abgeleitet wird: Sie hätten auch Fußballer werden können. Sie spielten als Kind in Bremen am DFB-Stützpunkt – und sind nur ein Jahr jünger als der gebürtige Bremer Nationalspieler Julian Brandt. Mal so formuliert: Glauben Sie, er wird auch manchmal nach Ihnen gefragt?
Glaube ich nicht, nein (lacht). Ehrlich gesagt: Ich war nie mit ihm in Kontakt. Das wurde irgendwann mal aufgegriffen, weil er halt Bremer ist wie ich.
Nach Ihrer Amputation, so geht die Geschichte weiter, bekamen Sie einen Flyer mit dem Behindertensportangebot vom TSV Bayer Leverkusen in die Hand gedrückt – und wünschten sich, einen Para-Sportler kennenzulernen. Bald nach einem Treffen mit Weitspringer Markus Rehm waren Sie dann selbst in Leverkusen – und als Fan bei den Paralympics 2012 in London.
Ich war damals mit einer Jugendgruppe vor Ort, mit dem Paralympischen Jugendlager. Es waren irre Spiele. Oscar Pistorius live zu sehen, in einem vollen Stadion, das war eine mega Erfahrung, die mich heiß gemacht hat, im Sport richtig anzugreifen.
Kann es in Paris, zum ersten Mal seitdem wieder in Europa, ähnlich werden?
Die Engländer sind allen auf der Welt in der Wertschätzung für paralympischen Sport immer noch voraus. Sie haben einen gemeinsamen Verband für olympische und paralympische Athleten – dass da nicht getrennt wird, das zeigt schon viel. Da könnte sich der Sport in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern eine dicke Scheibe von abschneiden. Was die Franzosen angeht: Ich denke schon, dass sie auch diese Begeisterung aufbringen können. Wir haben jedes Jahr einen Grand Prix in Paris, der ist immer gut besucht. Und letztes Jahr wurde durch die Para-Leichtathletik-WM schon viel Wind gemacht.
Als aktueller Weltmeister im Weitsprung haben Sie gerade den Weltrekord in Ihrer Startklasse verloren: Der Niederländer Joel de Jong, wie Sie über dem Knie amputiert, sprang in der Paralympics-Vorbereitung 7,67 Meter – 42 Zentimeter weiter als Ihre vorherige Bestleistung. Wie sind solche Steigerungen im Para-Sport zu erklären?
Wir springen mit der Prothese ab, also hat so eine Verbesserung oft etwas mit dem technischen Verständnis zu tun: Was kann mir die Prothese bringen, wie hole ich das Maximum aus ihr raus? Das hat er für sich verstanden. Und er läuft sehr schnell an. Ich arbeite noch dran, meine Geschwindigkeit aus dem Sprint in den Weitsprung zu transferieren. Aber ich finde es irgendwie sogar super, dass mir der Weltrekord abgenommen wurde. Das macht’s spannend. Und das zeigt, was für Sprünge unsere Leistungen machen. Bei den Spielen in Rio 2016 ging der Weitsprung mit 6,70 Metern weg, das ist aktuell nicht mal unsere Qualifikationsweite für Paris. Wir haben drei Leute, die über sieben Meter springen. Und über 100 Meter hat der Paralympics-Sieger 2016 in 12,26 Sekunden gewonnen. Damit wirst du jetzt Sechster, Siebter, Achter. Die Leistungssprünge machen es für Fans interessanter. Jeder, der bei den Paralympics dabei ist, gibt sich dem Sport hin. Und was ich an uns Para-Athleten cool finde: Die Gemeinschaft ist bei uns noch ausgeprägter, weil wir uns noch mal anders verstehen. Wir wissen, was es heißt, mit Behinderungen hart zu arbeiten.