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Paralympics 2012 in London:Was im Leben als Behinderter alles geht

Der Vorläufer der Paralympischen Spiele fand noch mit 16 Sportlern in einer einzigen Disziplin statt. Mittlerweile ist die Bewegung gewachsen: In London gehen ab Mittwoch 4200 Athleten bei 503 Entscheidungen an den Start. Man kann sehen, wie weit es eine Minderheit mit ihren Botschaften bringen kann.

Thomas Hahn, London

Sie stehen an irgendeinem Ort, der aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Rauch liegt in der Luft, mattes Neonlicht bricht die Dunkelheit. Sie haben eine finstere Entschlossenheit im Blick, wie man sie von Fantasy-Helden aus dem Film kennt, und tatsächlich wirken die britischen Paralympics-Teilnehmer auf dem Plakat wie eine Gang von guten Freaks, in deren verformten Körpern irgendwelche Überkräfte stecken für den Kampf gegen das Böse. Wie Mythenfiguren in engen Trikots, die gleich auf Feuer-Rollstuhlreifen und rasenden Prothesen zur Weltrettung aufbrechen.

"Meet the Superhumans" steht in großen Buchstaben über der Szene, darunter der Hinweis auf die Weltspiele des Behindertensports, die an diesem Mittwoch in London beginnen - und es ist, als bekäme die Zukunft Gesichter. Sind Menschen mit Rädern statt Beinen, Federn statt Füßen und Minderwuchs statt Durchschnittskörpern die Supermenschen des 21. Jahrhunderts?

Das Plakat ist Werbung für die Paralympics-Übertragungen von Channel 4, es übertreibt, weil Übertreibung anschaulich macht. Der privat finanzierte britische Sender will schließlich möglichst viele Leute vor den Fernseher kriegen während der nächsten zehn Wettkampftage. Im Januar 2010 hat das Unternehmen die TV-Rechte an den Spielen gegen das Gebot der öffentlich-rechtlichen BBC erworben. Jetzt soll der Schachzug ein Erfolg werden, deshalb hat Channel 4 auf Plakaten, in Anzeigen und Kinospots die offensivste Kampagne für paralympischen Sport lanciert, die es je gab.

Aber Werbung will in die Köpfe der Menschen, und so könnte Channel 4 mit seiner Meet-the-Superhumans-Kampagne tatsächlich das Weltbild der Mehrheit verändern. Eine Minderheit, die wegen ihrer Handicaps von einer Gesellschaft aus sogenannten Nichtbehinderten lange unterschätzt oder sogar als störend empfunden wurde, steht plötzlich als Ideal da. Im Grunde ist das eine Revolution. Sir Philip Craven, der britische Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC), hat in der Zeitung Independent über die Spiele 2012 sogar gesagt: "Lasst dies die neue Erleuchtung des 21. Jahrhunderts sein."

Da trägt Sir Philip vielleicht doch ein bisschen zu dick auf. Großbritannien ist schließlich nicht die ganze Welt, und auch wenn so viele Nationen wie noch nie an den Paralympics teilnehmen, 166 genau - es gibt noch genügend Ecken in der Welt, in denen Menschen mit Behinderung schlechte Chancen haben, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Selbst in den reichen Ländern ist das selbstverständliche Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung oft Wunschdenken. Martin Georgi, Vorstand der Aktion Mensch, sagt: "Inklusion ist noch lange keine Realität. In der Welt nicht und auch nicht im Sport."

Aber der vorläufige Höhepunkt einer Erfolgsgeschichte ist das Ereignis in der britischen Hauptstadt sehr wohl. Als Erfinder der Paralympics gilt der deutsche Arzt Sir Ludwig Guttmann, der am Krankenhaus von Stoke Mandeville, nicht weit von London, Wettkampfsport als Mittel der Rehabilitation von Querschnittsgelähmten anwandte. Die ersten Stoke-Mandeville-Games, Vorläufer der Paralympics, fanden 1948 mit 16 Teilnehmern und einer Disziplin statt: Bogenschießen. 1960 in Rom gab es erstmals Paralympics kurz nach den Olympischen Spielen. Seit 1988 werden die Paralympics grundsätzlich in der Olympiastadt ausgetragen.

2001 vereinbarten IOC und IPC, dass das Organisationskomitee für Olympia auch das für die Paralympics sein muss. Die Olympiaveranstalter konnten es sich danach nicht mehr leisten, die Paralympics als minderwertig zu betrachten. Zumal da auch die Medien zunehmend berichteten, die sich wiederum von ihrem Publikum unter Druck gesetzt sahen, die Paralympics mit ihren Idealisten und Lebenskünstlern gebührend zu betrachten.

So hat sich die Bewegung hochgeschaukelt. In London sind die Paralympics ein Großereignis mit 4200 Athleten und 503 Entscheidungen in 20 Sportarten. Und man kann sehen, wie weit es eine Minderheit mit ihren Botschaften bringen kann, wenn sie ein Ereignis hat, das sich auf dem freien Markt des Sportgeschäfts festgesetzt hat. Noch nie sind so viele Athleten mit Behinderung in der Werbung zu sehen gewesen wie jetzt. Noch nie hat ein Spiele-Organisationskomitee so viele Tickets verkauft wie das Londoner Locog; von den 2,5 Millionen Karten waren bis Montag 2,4 Millionen verkauft. Einen Bieterstreit um die Fernsehrechte, wie ihn Channel 4 und BBC aufführten, gab es vorher noch nicht. Laut IPC werden vier Milliarden Zuschauer auf der ganzen Welt Fernsehbilder von den Paralympics sehen. In Deutschland übertragen ARD und ZDF 65 Stunden von den Paralympics - Rekord.

Der Behindertensport wächst hinein ins moderne Leistungssportgeschäft, das eine marktorientierte Unterhaltungsindustrie beherrscht. Wobei im paralympischen Business Moral und Kommerz einen besonders eleganten Doppelpass spielen. Channel 4 kann mit seiner Rekord-Live-Berichterstattung sein Profil schärfen und sich am Ende als Träger eines neuen gesellschaftlichen Bewusstseins feiern lassen. Der derzeit berühmteste Athlet mit Behinderung, der südafrikanische Prothesensprinter Oscar Pistorius, ist eine professionell vermarktete Sportgröße, an der die Welt sieht, wie schnell einer auch ohne Unterschenkel rennen kann.

Pistorius hat zuletzt sein Olympia-Debüt gegeben, bei den Paralympics versucht er seine drei Siege von Peking 2008 zu wiederholen. Und weiterhin erzählen die Paralympics von den wildesten Launen des Schicksals: Im ruandischen Sitzvolleyball-Team spielen frühere Feinde aus dem blutigen Konflikt zwischen den Volksgruppen Hutu und Tutsi zusammen. David Behre aus Leverkusen wurde Sprinter, nachdem ihn ein Zug überfahren hatte. Und so weiter.

Und die Supermenschen aus der Werbung? Sind ziemlich bodenständige Leute. Die kleinwüchsige Schwimmerin Eleanor Simmonds aus Walsall, die auf dem Meet-the-Superhumans-Plakat besonders entschlossen wirkt, findet, dass Paralympics daheim ein Vorteil sind, weil man nicht fürs Übergepäck bezahlen muss, fröhlich sagt sie: "Man muss an sich glauben, aber man kann nicht zu selbstbewusst sein." 2008 bei den Paralympics in Peking hat sie als 13-Jährige zweimal Gold gewonnen. Sie ist nur 1,23 Meter groß, aber die jüngste Verdienstorden-Trägerin des britischen Königreichs. Sie ist keine Mythenfigur. Sie ist ein ganz normales kleines Menschenwunder, das zeigt, was im Leben alles geht.

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SZ vom 29.08.2012/ebc
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