Afghanen bei den Paralympics:Dem Chaos gerade so entkommen

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Standhaft: Taekwondo-Kämpferin Zakia Khudadadi aus Afghanistan nach ihrem Erstrunden-Aus gegen die Usbekin Ziyodakhon Isakova. (Foto: Shuji Kajiyama/AP)

Aus ihrer Wohnung in Kabul hatte die Afghanin Zakia Khudadadi einen Hilferuf an die Welt gerichtet. Dank internationaler Hilfe fand sie den Weg zu den Paralympics in Tokio - und womöglich hinein in ein neues Leben.

Von Thomas Hahn, Chiba

Für Ziyodakhon Isakova aus Usbekistan ging die Mühe nach dem Kampf erst los. Nach ihrem Erstrundenerfolg im Taekwondo-Turnier der Paralympics von Tokio wartete in der Interviewzone eine Schar internationaler Reporterinnen und Reporter auf sie. Alle wollten sie sprechen, was allerdings weniger mit ihr zu tun hatte, als vielmehr mit der Person, die sie gerade bezwungen hatte. Mit der einarmigen Zakia Khudadadi aus Afghanistan also, die kurz vor den Paralympics aus einer Wohnung in Kabul einen Hilferuf an die Welt gerichtet hatte, weil sie nach der Machtübernahme der Taliban nicht aus dem Haus konnte.

Zakia Khudadadi würde nichts sagen, das war klar. Sie und alle anderen aus der afghanischen Delegation hatten vom Internationalen Paralympischen Komitee (IPC) die Erlaubnis, nicht die Interviewzone besuchen zu müssen. Also wurde nun mal ihre Gegnerin befragt, und das war eben Ziyodakhon Isakova, eine freundliche 23-Jährige, die auch alles versuchte, um mit ihren paar Brocken Englisch das Interesse zu befriedigen. Die Erleichterung ihrer Zuhörer war groß, als Isakova nach vielen Versuchen irgendwann sagte: "Afghanistan coming I am happy."

Alle sind froh, dass Zakia Khudadadi, 22, und ihr Teamkollege, der Leichtathlet Hossain Rasouli, 26, dem Chaos in Kabul entkommen konnten. Die Lage im Land nach dem Abzug der US-Truppen wird dadurch nicht besser. Sehr viele Menschen, vor allem Frauen, bleiben zurück, deren Freiheit unter den Taliban in Gefahr ist. Aber immerhin: Eine Gruppe von Sportlerinnen hat den Abflug geschafft. Insgesamt sollen es rund 50 sein - darunter Khudadadi. Dabei sah es erst gar nicht gut aus.

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Zakia Khudadadi hatte ihren Hilferuf via Videobotschaft in die Welt gesetzt. Sie sei mit entfernten Verwandten in einer Wohnung in Kabul und fühle sich wie "im Gefängnis". Sie wolle zu den Paralympics. "Bitte nehmen Sie mich an die Hand und helfen mir", sagte sie auf Farsi, "lassen Sie nicht zu, dass einer afghanischen Bürgerin in der paralympischen Bewegung so einfach die Rechte weggenommen werden." IPC-Präsident Andrew Parsons fand das Video "herzzerreißend". Aber er sah "keinen sicheren Weg" aus Kabul heraus. Bei der Eröffnungsfeier trug ein Volunteer die Fahne Afghanistans.

Niemand aus dem paralympischen Flüchtlingsteam musste flüchten, um direkt zu den Paralympics zu kommen

Geflüchtete sind ein Thema bei den Spielen. Sie haben ein eigenes sechsköpfiges Team in Tokio. Vor der Eröffnungsfeier gab es eine Pressekonferenz. 12 Millionen Geflüchtete mit Behinderung gebe es auf der Welt, hieß es dort. Behinderung kann der Grund für die Flucht sein. "Die Familien zahlen, damit die Leute mit Behinderung aus den Kriegsgebieten rauskommen, weil es sehr schwer für sie ist, dort zu überleben", sagt Sakis Kostaris vom Hellenischen Paralympischen Komitee, das schon viele Menschen aus griechischen Geflüchteten-Unterkünften zum Sport gebracht hat. Am Donnerstag startete auch ein Geflüchteter, der jetzt in Deutschland lebt: Der Syrer Anas Al Khalifa aus Halle/Saale bestritt den Vorlauf im Kanu-Wettbewerb.

Aber niemand aus dem Team musste flüchten, um direkt zu den Paralympics nach Tokio zu kommen. Die Reise von Zakia Khudadadi und Hossain Rasouli muss dramatisch gewesen sein. Australiens öffentlich-rechtlicher Sender ABC hat sie dokumentiert. Demnach wurde sie erst durch die Initiative von Privatpersonen und guten Kontakten möglich. Zunächst vor allem durch Nikki Dryden, einst Olympia-Schwimmerin für Kanada, heute Menschrechtsanwältin, und ihre australische Kollegin Alison Battison. Sie erstellten eine Liste von afghanischen Athletinnen, die der Machtwechsel in besondere Gefahr brachte. Sie aktivierten ihre Netzwerke, was erstaunlich schnell dazu führte, dass Australiens Regierung Hilfe zusagte - wohl auch, weil diese sich als Gastgeberin der Frauenfußball-WM 2023 in der Pflicht sah.

Das größte Problem: Die Sportlerinnen und deren Angehörige zum Hamid-Karzai-Flughafen zu bringen, zu australischen Verteidigungskräften dort und in die Sicherheit eines Abflugterminals. Kabul ist dieser Tage der Schauplatz einer humanitären Krise. Tausende wollen weg, in der verzweifelten Menge herrscht Gewalt und Gedränge, es ist heiß, Lebensmittel sind knapp. ABC zeigte Bilder: Zakia Khudadadi erschöpft auf einer staubigen Straße. Zakia Khudadadi eingezwängt zwischen Menschen. Aber am Ende klappte es. Laut ABC auch deshalb, weil Neil Fergus, Geschäftsführer einer Sicherheitsberatungsfirma, die Flucht als Unterhändler begleitete.

Am vergangenen Samstag meldete das IPC, Zakia Kudadadi und Hossain Rasouli seien in Tokio angekommen. Sie seien erst von Kabul nach Paris geflogen, hätten dort in Frankreichs nationalem Sportzentrum Insep Kräfte gesammelt und trainiert und seien dann zu den Paralympics aufgebrochen.

Eine verrückte Geschichte. Zu gerne hätte man sie sich von Zakia Khudadadi selbst erzählen lassen. Aber natürlich war es klüger, zu schweigen. Mit strammen kurzen Schritten marschierte sie am Donnerstagvormittag in die Halle. Sie wirkte konzentriert und fit. Sie startete offensiv und wirkte erst am Schluss etwas müde. Als der Kampf vorbei war, ging sie direkt zum Ausgang und verschwand. In der Trostrunde kam sie wieder; sie verlor gegen Viktoriia Marchuk aus der Ukraine.

Und Ziyodakhon Isakova? Die so tapfer für sie gesprochen hatte? Verlor ihren Kampf um Bronze. Auch sie wird den Tag, an dem Zakia Khudadadi bei den Paralympics startete, wohl nicht mehr vergessen.

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