Paralympics:Ganz großes Rollstuhltennis

Paralympics - Previews

Zieht die Blicke seiner Heimatstadt auf sich: Shingo Kunieda, Weltranglisten-Erster im Rollstuhltennis.

(Foto: Toru Hanai/Getty Images)

In Japan stehen Menschen mit Behinderung am Rand der Gesellschaft. Mit den Paralympics in Tokio verbinden die Sportler die Hoffnung auf Veränderung - Shingo Kunieda soll sie tragen.

Von Thomas Hahn, Tokio

Das Tennisturnier der Paralympics in Tokio begann damit, dass es nicht richtig begann. "Heat Delay", stand am Freitagmittag auf den Anzeigetafeln der Außenplätze im Ariake-Tennispark. Die blauen Spielfelder lagen leer in der schwülen Hitze, während unter dem geschlossenen Dach des Center Courts wenigstens eines der ersten Erstrundenmatches seinen Lauf nahm. Der Japaner Takashi Sanada bezwang den Niederländer Carlos Anker 6:1, 6:1. Danach sprach Sanada von der Ehre, vor heimischen leeren Rängen zu spielen. Und dann kam, was kommen musste: Fragen zu Landsmann Shingo Kunieda, den Gold-Favoriten und Weltranglisten-Ersten.

Sanada steht im Schatten Kuniedas, wie alle in Japans Team, im Doppel allerdings auch an Kuniedas Seite. Er weiß also wie es ist, mit der Lichtgestalt seines Sports zusammenzuarbeiten, das macht Takashi Sanada, 36, amputiert seit einem Motorradunfall vor 17 Jahren, zusätzlich interessant. Er gab dann auch Auskunft. "Ich kann nicht nachmachen, was er im Training macht", sagte er über Kunieda, "aber bei der Stuhlarbeit kann ich viel von ihm lernen." Die Stuhlarbeit ist die Beinarbeit des Rollstuhltennisspielers.

254 Athletinnen und Athleten umfasst das Team des Spiele-Gastgebers. Es ist das größte, das Japan jemals bei Paralympics aufgeboten hat. Die ersten Medaillen sind schon da, der Schwimmer Takayuki Suzuki, ohne Füße und rechte Hand geboren, gewann am Donnerstag das erste Gold. Aber der Tennisprofi Shingo Kunieda, 37, sticht heraus aus der Menge. Seit 17 Jahren spielt er großes Rollstuhltennis, jedes Grand-Slam-Einzelturnier hat er schon mindestens zweimal gewonnen. 2012 in London war er der Erste seines Sports, der sein zweites Paralympics-Gold in Serie gewann. Er gehört zu den wenigen Spielern, die vom Rollstuhltennis leben können. Und jetzt zieht er die Blicke in seiner Heimatstadt auf sich. In Tokio plant er die Revanche für sein Viertelfinal-Aus in Rio vor fünf Jahren. Shingo Kunieda ist der Fixpunkt des öffentlichen Interesses, einer, der seine Mannschaft schon dadurch entlastet, dass er da ist.

Im sonst so fortschrittlich anmutenden Japan ist vieles noch nicht behindertengerecht

Kunieda dürfte deshalb auch ein wertvoller Helfer bei den gesellschaftlichen Zielen der japanischen Paralympics-Mannschaft sein. Denn obwohl man in Japan grundsätzlich nicht dazu neigt, zu viel Wind um die eigenen Belange zu machen - auch Japans Paralympier sehen die Heimspiele als Chance für ihre Rechte im eigenen Land. Sie wollen Veränderung. Denn ausgerechnet in Japan, das oft so futuristisch und fortschrittsfreundlich daherkommt, stehen Menschen mit Behinderung noch ganz am Rand der Gesellschaft.

"Im Vergleich zu früher ist es besser geworden", sagt Katsunori Fujii von der Non-Profit-Organisation Japan Council on Disability. Seit 2016 gibt es ein Anti-Diskriminierungsgesetz für Menschen mit Behinderung. In den großen Bahnhöfen sind Rampen, Aufzüge und Sehbehindertenhilfen Pflicht. Auf den ersten Blick sieht vieles sehr gut aus. Aber viele kleine Bahnhöfe seien noch nicht behindertengerecht, sagt Fujii. Die Wohnverhältnisse in den engen Bezirken der Städte sind es sicher auch nicht. Und dazu kommen die Barrieren in den Köpfen.

In Japan wird erwartet, dass man persönliche Interessen und Bedürfnisse der Mehrheit unterordnet, damit die Kollektivgesellschaft harmonisch und im Fluss bleibt. Aber wenn Menschen mit Behinderung ihre Bedürfnisse nicht ernst nehmen, verzichten sie damit meistens auf die ganz normale gesellschaftliche Teilhabe. 20 Millionen Menschen mit Behinderung gebe es in Japan insgesamt, sagt Katsunori Fujii. "Immer noch gehen sehr viele von ihnen nicht raus." Tatsächlich sieht man wenige Menschen mit Behinderung auf Tokios Straßen.

"Menschen mit Behinderung wurden wie selbstverständlich ausgeschlossen. Daran hat sich nicht viel geändert"

Menschen mit geistiger Behinderung sind oft in Einrichtungen untergebracht. 2016 gab es in einer solchen Pflegeeinrichtung in Sagamihara ein grausames Massaker. Ein früherer Angestellter und Euthanasie-Fanatiker erstach 19 Menschen im Schlaf. Danach wollten viele betroffene Familien die Namen der Opfer nicht preisgeben. Warum? "Weil man uns diskriminieren könnte", zitierte die Nachrichtenagentur Kyodo Anfang 2020 eine Person, die in Sagamihara ein Familienmitglied verloren hatte.

Katsunori Fujii sagt: "Während des Wiederaufbaus nach dem Krieg und des rasanten Wirtschaftswachstums wurden Menschen mit Behinderung als Klotz am Bein gesehen. Sie wurden wie selbstverständlich ausgeschlossen. Daran hat sich nicht viel geändert." Die Mitglieder der japanischen Paralympics-Mannschaft kennen das. Einzelne wissen, dass es auch anders geht. Miki Matheson, stellvertretende Teamleiterin, 1998 Paralympicssiegerin mit dem Eisschlitten, heute in Kanada verheiratet, sagte der Nachrichtenagentur AFP: "Wenn ich zurück in Japan bin, werde ich oft wie eine behinderte Person behandelt. In Kanada dagegen fällt meine Behinderung gar nicht auf."

Die Tokio-Paralympics sollen im Inselstaat das Bewusstsein dafür schärfen, was Menschen mit Behinderung können. Wobei die Japanerinnen und Japaner das am Beispiel von Shingo Kunieda längst hätten sehen können. Er ist schließlich kein Neuling. Als er mit neun Jahren seine Beinkraft an einen Rückenmarkstumor verloren hatte, schickte seine Mutter ihn zum Tennis. Er erkannte sein Talent, und dann packte ihn der Ehrgeiz. Sein früherer Trainer Hiromichi Maruyama hat mal erzählt: "Daten sagen, dass man mindestens 30 000 Bälle gespielt haben muss, um eine Schlagtechnik zu beherrschen. Also haben wir jeden Schlag gezählt." Die australische Mentaltrainerin Ann Quinn brachte ihm seine Selbstwahrnehmung als Champion bei. 2006 schlug sie ihm vor, jeden Morgen zu seinem Spiegelbild zu sagen: "Ich bin unbesiegbar." Kunieda machte das jahrelang, bis jeder Zweifel vertrieben war.

Niederlagen kennt Kunieda trotzdem. Aber er mag sie nicht. Als er 2016 im Viertelfinale von Rio mit schmerzendem Ellbogen dem Belgier Joachim Gerard unterlag, war das ein Einschnitt. Er änderte danach so gut wie alles. Den Trainer. Die Technik. Die Sitzposition. Und jetzt will er sein Gold zurück. Über seine Geschichte hat er zuletzt wenig geredet. Das heißt nicht, dass er sie verleugnet. Er glaubt einfach, dass er seine Landsleute mit Siegen und Leistungssportler-Verhalten eher überzeugen kann. "Ich werde mich erst auf meine Ergebnisse konzentrieren", sagt er, "und die geben dann hoffentlich einen guten Impuls für Japan." Erst das Gold, dann mehr Inklusion - das ist Shingo Kuniedos Strategie. Für Japan ist es vermutlich die einzig richtige.

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