Konzentriert arbeitet sich die junge Kletterin die von Wolken umhüllte Wand nach oben. Am Finaltag der Parakletter-Europameisterschaften in Villars meint es das August-Wetter nicht gut mit den Teilnehmenden. Als Parakletterin ist Rosalie Schaupert an zwei Seilen gesichert, um bei einem Sturz ein Herauspendeln aus der stark überhängenden Route abzumildern. Ihre Füße setzt die 18-Jährige aus Aschaffenburg präzise, das sieht man bei der Videoübertragung des Wettkampfes im Livestream.
Wie stark sie individuelle Lösungen umsetzt, die auf ihre körperliche Situation gemünzt sind, erkennt man auf den ersten Blick nicht – das erzählt sie erst später im Interview. Kurz vor dem Ende der Route, einen Griff vor dem Top, fällt sie heraus. Mit ihrer linken Hand, an der sie zwei Finger hat, erreicht sie noch den Griff, ihre Kräfte reichen aber nicht mehr für den finalen Push aus. Noch in der Luft schüttelt sie den Kopf, wirkt enttäuscht. Sie weiß da noch nicht, dass sie gerade eine Goldmedaille in ihrer Klasse AU3 gewonnen hat. AU3 steht für Kletterinnen, die intakte Arme und Handgelenke haben, aber an einer Hand oder an beiden Händen eingeschränkt sind.
Schaupert setzt sich mit 55 Punkten und weitem Abstand an die Spitze des Finals, an dem mit ihr drei weitere Athletinnen teilgenommen haben. Ihre Goldmedaille ist die Krönung einer erfolgreichen EM der deutschen Athletinnen und Athleten, die mit insgesamt sieben Medaillen aus der Schweiz nach Hause fahren. Das Ergebnis ist auch für den Deutschen Alpenverein, der als Kletterverband fungiert, sehr erfreulich – zumal das Paraklettern auf die ganz große Bühne zusteuert.
Im Juni gab das Internationale Paralympische Komitee (IPC) bekannt, dass der Sport sein Debüt bei den Paralympischen Spielen in Los Angeles 2028 geben wird. Zunächst als „Additional Sport“, also probeweise, sagt Sebastian Depke, der sich stark für seinen Sport einsetzt. Er ist selbst Paraclimber, nahm an der EM in Villars teil, schaffte es in seiner Klasse RP1 aber nicht ins Finale. Dafür kommentierte der gebürtige Rheinland-Pfälzer dann die Finalrunden seiner Teamkollegen. Der 39-Jährige lebt mittlerweile auf Mallorca, weil „das Klima besser für mich ist“, sagt er. 2017 bekam er die Diagnose Morbus Bechterew, eine chronische rheumatische Erkrankung, bei der Gelenke und die Wirbelsäule versteifen. Durch seine Erkrankung geht er stark nach unten gebeugt, „ich kann gerade den Horizont sehen“, sagt er.
„Es ist spannend zu sehen, welche Wettkämpfe hier auch zwischen den Sportarten ausgetragen werden“, sagt Depke
Depke, der schon seit 1998 klettert, war zunächst Athletensprecher beim Internationalen Kletterverband (IFSC), nun berät er die IFSC im Expertengremium fürs Paraklettern. Die Bewerbung beim IPC fand schon 2022 statt. 33 Sportarten haben sich damals beworben, 22 wurden in einem ersten Auswahlverfahren angenommen, als zusätzliche Sportart setzte sich am Ende Paraklettern gegen Parasurfen durch. „Es ist spannend zu sehen, welche Wettkämpfe hier auch zwischen den Sportarten ausgetragen werden“, sagt Depke, der als IFSC-Gesandter aktuell bei den Spielen in Paris unterwegs ist.
In Los Angeles an den Start zu gehen, das ist auch Schauperts großer Traum. Mit dem Klettern hat sie bereits im Alter von fünf Jahren begonnen, fünf Jahre später trainierte sie schon gezielt, an einem internationalen Wettkampf konnte sie aber erst mit 16 teilnehmen, weil es im Paraclimbing bisher keine Jugendeuropacups gibt. Ihre Bilanz: drei Goldmedaillen bei Weltcups, ein vierter Platz in ihrer Kategorie bei den Weltmeisterschaften in Bern 2023, und nun EM-Gold.
Schaupert ist mit zwei Fingern an der linken Hand zur Welt gekommen. Auf die Frage, welche Finger es sind, also etwa ob Daumen oder Mittelfinger, sagt sie: „Das wüsste ich auch gern.“ Klar ist, dass sie mit ihren zwei Fingern keine Zangengriffe greifen kann, auch Henkelgriffe, die als die einfachsten im Klettern gelten, sind für sie schwierig zu halten. Stößt sie in der Route auf solche Griffe, wechselt sie beim Griff vorher so die Position, dass sie mit ihrer rechten und intakten Hand greifen kann.
Insgesamt gibt es zehn Wettkampfklassen je Geschlecht, denen die Athletinnen und Athleten zugeordnet sind. Auf internationaler Ebene finden nur Wettkämpfe statt, wenn mindestens vier Athleten aus drei verschiedenen Ländern an den Start gehen. Die Routenbauer haben keine körperlichen Einschränkungen und stehen bei ihrer Arbeit vor besonderen Herausforderungen. Um die Routen zu testen, improvisieren sie, binden sich ein Bein nach oben, tapen an der Hand die Finger zusammen, verbinden sich die Augen oder klettern eine Route einarmig. Schwieriger sei es nur für die RP-Klassen, die für neurologische und motorische Einschränkungen stehen und zu denen auch er selbst zählt, sagt Depke.
Ob sich die beiden selbst als eingeschränkt wahrnehmen? „Im Alltag nicht“, sagt Rosalie Schaupert. Nur beim Klettern sehe sie, dass Kletterinnen ohne Einschränkungen manchmal schneller eine Lösung für eine Route finden als sie. Für Depke stelle sich die Frage nur im Austausch mit anderen. „In meinem Bewusstsein fühle ich mich nicht behindert“, sagt er. Er sei ein zufriedener und glücklicher Mensch, Klettern sei für ihn Lebensinhalt und auch essenzielle Therapie, weil er regelmäßige Bewegung brauche.
Das Wichtigste für ihn sei der Spaß am Klettern, dass man das liebt, was man tut. Wenn dabei noch etwas herauskommt, etwa eine Teilnahme bei den Paralympischen Spielen, dann sei das ein „Tüpfelchen auf dem i“. Ob Schaupert und er am Ende in ihren Klassen vertreten sein werden, entscheidet aber nicht nur ihre eigene Leistung. Denn wie viele Medaillensets es am Ende gibt und welche Klassen an den Start gehen, entscheidet das IPC erst nächstes Jahr.