Süddeutsche Zeitung

Para-Sport:Immer auf Augenhöhe

Kevin Bartke kämpft an diesem Freitag bei der WM im Paraklettern um die Medaillen. 2028 könnte es der Fürther zu den Spielen nach Los Angeles schaffen - wenn sein Sport ins Programm aufgenommen wird.

Von Nadine Regel

Beinahe hätte die WM in Moskau ohne die Parakletterer und -kletterinnen stattgefunden. Das Team war kurz davor, eine Crowdfunding-Kampagne zu starten, um alle aussichtsreichen Kandidaten zur WM zu schicken. Durch eine interne Budgetumschichtung beim Deutschen Alpenverein (DAV), dem deutschen Kletterverband, konnten die Reisekosten dann doch noch beglichen werden. Acht DAV-Athletinnen und -Athleten gingen am Donnerstag bei der Qualifikation im 300 Meter langen CSKA Sports Complex, einer grauen Mehrzweckhalle mit Sowjetcharme, im Nordwesten der Stadt an den Start. Drei schafften es in ihrer Kategorie ins Finale. Einer von ihnen ist der Fürther Kevin Bartke. Im ersten Durchlauf erreichte er in seiner Kategorie das Top, also das Ende der Route, im zweiten kletterte er weiter als die Konkurrenz. Am Freitagabend startet der 35-Jährige im Finale der besten Vier um eine Medaille, seine Chancen stehen gut.

AU2, armamputiert, das ist Kevin Bartkes Kategorie. Wenn nicht genügend Athleten zusammenkommen, startet er auch mal als RP2, worunter Kletterer zusammengefasst werden, die eingeschränkte Kraft, Beweglichkeit und Stabilität besitzen. Insgesamt gibt es zehn Kategorien, darunter auch Blinde und Beinamputierte. Je nach Schweregrad werden sie innerhalb der Kategorien nochmals zwei- bis dreifach unterteilt.

Bartke verlor seine rechte Hand noch im Mutterleib. Die Nabelschnur wickelte sich um seinen Arm, der unterhalb des Ellenbogens wegen fehlender Blutversorgung abstarb. "Das kommt bei Zwillingen häufiger vor, weil man weniger Platz im Bauch der Mutter hat", sagt Bartke. Sein Bruder habe keine Beeinträchtigung. Dennoch habe sich Bartke gleichberechtigt gefühlt. Seine Erziehung habe auf Augenhöhe stattgefunden. "Ich wurde nicht geschont, musste an Schwimmkursen teilnehmen und Schuhschleifen binden", sagt er. Deswegen habe er seine Kindheit und Jugend nicht negativ erlebt. Und falls doch mal ein blöder Spruch zu seinem Arm kam, "stand ich immer drüber", sagt er. Für ihn sei seine körperliche Einschränkung sogar eine Chance, weil ihm dadurch ein gewisser Weg aufgezeichnet wurde, den er jetzt gehe. Mit dem Klettern begann Bartke als 14-Jähriger, gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder. Seither nimmt der Sport einen Großteil seines Lebens ein.

"Das Paraklettern wird oft nur als ein Anhängsel behandelt, zum Beispiel, was die finanzielle Ausstattung angeht."

Bartkes selbstbewusster Umgang mit seiner Behinderung ist für seinen Trainer Christoph Reichert, der die Parakletterer seit 2016 trainiert, nur logisch. "Die, die es in das Nationalteam schaffen, sind ja schon die, die mit ihren psychischen Möglichkeiten so gut ausgestattet sind, dass sie ihr Schicksal ins Positive wenden können", sagt der 47-Jährige. Aber es gebe eine große Anzahl von Menschen, die das nicht so hinbekämen. Die litten deutlich mehr unter Diskriminierung. Obwohl auch die Kletterer aus dem Para-Team sehr sensibel reagierten, wenn sie sich innerhalb des DAV benachteiligt fühlten. "Das Paraklettern wird oft gegenüber dem Klettern nur als ein Anhängsel behandelt, zum Beispiel, was die finanzielle Ausstattung angeht", sagt Reichert.

Ändern könnte sich das, wenn auch Paraklettern die größtmögliche Bühne bekäme. Der internationale Kletterverband IFSC hat sich dieses Jahr um eine Aufnahme beim Internationalen Paralympischen Komitee beworben. Die könnte 2028 drin sein, zu den Paralympics in Los Angeles. Kevin Bartke ist dann Anfang 40. "Ich wäre dann einer der älteren Teilnehmer und hoffe, dass ich bis dahin meine Form halten kann", sagt er. Die Aufmerksamkeit tue dem Para-Sport grundsätzlich gut, auch "in puncto Unterstützung und Sponsoring", sagt Bartke. Aktuell ist Paraklettern unterfinanziert. Was für Moskau nur ein Ersatzplan war, hat das Team für den Weltcup in Los Angeles im Oktober in die Tat umgesetzt: Es hat eine Crowdfunding-Kampagne gestartet. Das Ziel sind 10 000 Euro, um die Reisekosten der Athleten zu decken.

An Kampfeswillen mangelt es Bartke und seinen Mitstreitern jedenfalls nicht. Das gilt auch für seine Motivation. Das Training ist für ihn eine Form der Kompensation. Denn auf die Frage, ob er sich selbst als eingeschränkt wahrnimmt, antwortet er mit ja - und zwar beim Klettern. "Mit dem gleichen Trainingspensum kann ich nicht das Level halten wie eine Person mit zwei intakten Armen", sagt er. Das habe ihn aber immer auch angespornt, mehr zu machen. Hätte er mehr Zeit, würde er jeden Tag trainieren. Doch das ist schwierig, seine beiden Kinder, zweieiige Zwillinge, sind dreieinhalb Jahre alt. Sein Training legt er daher bewusst immer in die Abendstunden.

Bartke hat zwei Studienabschlüsse, als Dolmetscher und in den Fächern Soziologie und Volkswirtschaft. Mittlerweile arbeitet er im Familienunternehmen, einem Biolebensmittelhandel. Wenn die Kinder älter sind, plant Bartke wieder längere Klettertouren in den Alpen. Obwohl es da auch mal abenteuerlicher zugehe. In alpinen Routen weiß man nicht, was wirklich auf einen zukommt, ob man sich an schwierigen Stellen mit dem Stumpf, an dessen Spitze er so sensibel ist wie an den Fingerkuppen, festhalten könne. "Selbstvertrauen", sagt Bartke auf die Frage, woher er seinen Mut nimmt. Einfach steigen und darauf vertrauen, dass alles gut geht. Das ist es, was ihm auch sein Trainer attestiert: Kevin Bartke sei in sich ruhend und gefestigt, es gebe wenig, was ihn aus der Ruhe bringt. Allenfalls ein WM-Finale in Moskau.

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