100-Meter-Rekord von Ansah :Die Erschließung der Neun

Lesezeit: 3 Min.

Der erste Deutsche unter zehn Sekunden: Owen Ansah vom HSV. (Foto: Sven Beyrich/Sports Press Photo)

9,99 Sekunden: Owen Ansah gelingt bei den deutschen Meisterschaften ein 100-Meter-Sprint fürs Geschichtsbuch. Über einen 23-Jährigen, der schon einiges verlieren musste, um zu gewinnen.

Von Johannes Knuth, Braunschweig

Die Zuschauer hatten offenbar lange auf einen solchen Moment gewartet, sodass sie schon einmal loslegten mit den Feierlichkeiten. Während Owen Ansah, der neue deutsche Rekordinhaber über 100 Meter, noch protokollarischen Pflichten beim Fernsehinterview nachkam, beklatschten sie im Braunschweiger Stadion alle Geschlagenen, die an diesem historischen Rennen mitgewirkt hatten, und nun die Gegengerade entlang joggten. Als Ansah sich dann auf seine Ehrenrunde machte, war der Enthusiasmus ungebrochen, die Stadionregie unterlegte den Jubel mit den einschlägigen Chart-Hits. Wobei sie leider die Hymne von Ansahs Stammverein übergingen, vom Hamburger SV („Diese eine Liebe, sie bleibt besteh’n / Dieser Verein wird niemals je im Regen steh’n!“). Allzu oft kommen sie beim HSV ja nicht mehr in den Genuss nationaler Meisterweihen, schon gar nicht auf derart geschichtsträchtige Art.

Die deutschen Leichtathleten gönnten dem Publikum in Braunschweig nicht viele feierwürdige Momente – Julian Weber (86,63 Meter im Speerwurf), Frederik Ruppert (8:16,98 Minuten über 3000 Meter Hindernis), Gina Lückenkemper (11,04 Sekunden über 100 Meter) und Yemisi Ogunleye (19,25 Meter mit der Kugel) waren einige Ausnahmen; aber die Leistung der Titelkämpfe hatte es in sich. Mögen die meisten Gipfel, Polkappen und Urwälder längst erschlossen sein, der Sport bietet den athletischen Expeditionsforschern noch immer unberührtes Territorium. Noch nie war ein deutscher Sprinter über die prestigeträchtigen 100 Meter unter die Zehn-Sekunden-Marke getaucht, zumindest nicht bei zulässigen Rückenwindbedingungen, Julian Reus war 2016 in 10,01 am nächsten dran gewesen. Und jetzt, 9,99 Sekunden? „Den deutschen Rekord kann mir zwar jemand wegnehmen“, sagte Ansah angemessen feierlich, die Ersterschließung der neun Sekunden werde aber für immer mit ihm verknüpft sein.

Leichtathletik
:Kurzsprinter mit langem Atem

Joshua Hartmann könnte als erster deutscher Sprinter historische Schallmauern durchbrechen. Hält er den Erwartungen stand?

Von Johannes Knuth

Bei der Nachbesprechung offenbarte sich die eine oder andere Bildungslücke – mit Armin Hary, dem ersten Deutschen, der die 100 Meter 1958 in handgestoppten 10,0 Sekunden gerannt war, konnte der neue Rekordmann nicht viel anfangen – aber das musste man dem 23-Jährigen wohl nachsehen. Er eifere keinen Vorbildern im Sport nach, sagte Ansah, sein Held sei sein Vater. Der kam einst aus Ghana nach Deutschland „ohne irgendwas zu haben, der hat sich alles hart aufgebaut, hat drei top Kinder auf die Welt gebracht“, Ansah lächelte, sagte dann: „Unter anderem mich.“ Sein Sportlehrer vermittelte ihn in der siebten Klasse an die Leichtathletik und das Athletik-Team Hamburg. Der Sprung in die Spitze gelang dann unter Sebastian Bayer, dem einstigen Weitsprung-Europameister, der bei der Leichtathletiksparte des HSV gerade seine Karriere als künftiger Bundestrainer anschob.

Schon damals blühte im deutschen Sprint ein fruchtbares Biotop, mit Talenten, die heute das Rückgrat der Nationalstaffel bilden: unter anderem Joshua Hartmann, am Samstag Zweiter in 10,06 Sekunden und Ansahs Teamkollege Lucas Ansah-Peprah. 2021 gewann Ansah über die 200 Meter seinen ersten Meistertitel, 2022 siegte er über die 100 Meter, lief in 10,08 Sekunden seine bis zuletzt gültige Bestzeit. Aber um den gewinnbringenden Schritt zu schaffen, habe Ansah erst etwas verlieren müssen, sagte sein Trainer in Braunschweig: „Ich glaube schon, dass es zum Leben dazu gehört, Rückschläge einzustecken“, sagte Bayer. 2023 war es ein Schambeinödem, das Ansah die Saison kostete. Erst im vergangenen Mai schlüpfte er das erste Mal wieder in die Spikes (und wurde bei der EM in Rom prompt Fünfter in 10,17 Sekunden).

Der Bundestrainer hofft, dass der Lauf Signalwirkung für andere hat

Ansah ist keiner, den man im Erfolg mit Kräften auf den Boden ziehen muss, er lässt sich von Demut und seinem christlichen Glauben tragen, und so erkannte Ansah im vergangenen Jahr: „Da hilft keine Hatz.“ Obwohl er das Training und die Rennen schwer vermisste. Die Zeit fernab der Sportlerblase habe ihm die Zeit gewährt, über vieles nachzudenken, sagte er in Braunschweig, der Körper sei noch derselbe, der Kopf aber ein anderer. Er esse besser, schlafe besser, nutze jeden Moment, um in sich hineinzuhören. Das Verhältnis zu Bayer sei auch noch mal enger geworden, der Trainer sei wie ein „zweiter Vater“, was für den Familienmenschen Ansah nicht so dahingesagt ist. Als Bayer von Hamburg nach Mannheim zog, kamen Ansah und Ansah-Peprah mit, „anfangs war das schon ein Riesenschritt für mich“, sagte Ansah, „ich bin aus meinem Elternhaus ausgezogen“. Es gibt viele Fallbeispiele, bei denen es deutschen Talenten nicht guttat, ihr Umfeld derart zu verändern, aber Ansah glaubt nicht, dass er sich heute als Rekordmann feiern lassen könnte, wäre er in Hamburg geblieben. Er findet: „Man braucht Abstand von der Gewohnheit, man muss auch mal raus aus der Komfortzone.“

Es sprach für den Athleten und seinen Trainer, dass sie diesen historischen Samstag angemessen einhängten: 9,99 Sekunden bei 28 Grad und leichtem Rückenwind, sehr gutes Sprintwetter also, da müsse man nicht anfangen, zu träumen, sagte Bayer: Das werde in Paris kaum reichen fürs olympische Einzelfinale. Mit der Staffel seien die Chancen da schon größer. „Und ich glaube schon, dass die 9,99 noch nicht das Ende sind“, sagte Bayer, nicht nur für Ansah.

Einen äußerst betrüblichen Aspekt hatte DLV-Sportvorstand Jörg Bügner am Tag danach zu moderieren: Man werde nach rassistischen Kommentaren im Netz gegenüber Ansah „bei entsprechenden Formulierungen nicht zögern, Strafanzeige zu stellen“, sagte Bügner.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusGold für Malaika Mihambo
:Mit der Gänsehaut von Doha

Weitspringerin Malaika Mihambo krönt sich zur Europameisterin in Rom – mit einer Leistung, die Mut macht für die Olympischen Spiele. Ihre Goldmedaille poliert die Bilanz der deutschen Leichtathleten kräftig auf.

Von Saskia Aleythe

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: