Am Ende war es ein Gemälde. Stillleben in der Arena Corinthians zu São Paulo. Der grüne Rasen, darauf rote Kleckse. Lauter Schweizer Nationalspieler, die knieten, darniederlagen, ungläubig Löcher in die Luft starrten. Fast alle waren im Strafraum der Argentinier auf den Boden geplumpst, an jenem Ort, an dem sie bis zuletzt um den Einzug ins Viertelfinale dieser Fußball-WM gerungen hatten. Umsonst.
Ottmar Hitzfeld, ihr Trainer, der sich gerade mit einer qualvollen 0:1-Niederlage nach Verlängerung gegen Argentinien in den Ruhestand verabschiedet hatte, er fehlte in diesem Bild. Hitzfeld ließ die Spieler alleine trauern und er ließ andere sprechen. "So viele Emotionen, so viele Emotionen überall", stammelte Michel Ponts, Hitzfelds Stellvertreter. In der Nacht vor dem Achtelfinale war Hitzfelds 17 Jahre älterer Bruder in einer Basler Klinik an Leukämie gestorben.
Hitzfeld schluckte, als sie die Hymnen spielten, ansonsten ließ er sich nichts anmerken während dieser turbulenten zwei Stunden. "Uns hat am Ende die Kraft in der Offensive gefehlt", fuhr Ponts fort, dann sagte er: "Fußball ist brutal. Ein kleiner Fehler gegen einen großen Spieler ... total brutal."
Der große Spieler, damit war ein gewisser Lionel Messi gemeint. Der kleiner Fehler, das war ein Ballverlust in der 118. Minute der Verlängerung. Die Argentinier traten den Ball umgehend an Messi ab, klar. Sofort eilten drei, vier Schweizer herbei, so wie sie in den 118 Minuten davor herbeigeeilt waren. Aber diesmal hatte Messi ein, zwei Meter Vorsprung. Messi dribbelte, fünf Meter, fünfzehn, die Schweizer verschwanden im Rückspiegel. Am Horizont tauchten die Innenverteidiger Djourou und Schär auf, doch ihnen fehlte die Absicherung, auf dem Flügel wartete Ángel Di María alleine - 0:1.
Die Schweizer Nachhut kam zu spät. Stephan Lichtsteiner rannte Richtung Tor, während der Ball die Linie übertrat, er rannte einfach weiter, bis er ins Netz prallte. Dort hing er, der Brustkorb pumpte auf und ab, der Blick leer. Noch so ein Bild.
"Wir sind sehr enttäuscht, wir sind kaputt", sagte Lichtsteiner später, "wir hatten Chancen und einen Pfostenschuss gegen eine der besten Mannschaften der Welt. Wir können stolz sein." Zwei Minuten nach Messis Tor hatte Blerim Džemaili aus fünf Metern aufs Tor der Argentinier köpfeln dürfen, Džemaili traf den Pfosten, der Ball prallte an sein Knie. Zweite Chance. Aber Džemaili war zu überrascht, er stolperte den Ball neben das Tor. Dann war das Spiel aus, die Schweizer fielen zu Boden.
Zu mehr reichte die Kraft nicht mehr.
Ottmar Hitzfeld wartete ein paar Minuten. Er wischte sich mit beiden Händen durch das Gesicht, richtete seine Krawatte. Dann schritt er langsam zu seinen Spielern. Der 65-Jährige wirkte ein wenig unsicher, wie ein Tourist, der sich in der Mittagshitze einer Großstadt verlaufen hat. Man merkte, wie es in ihm arbeitete.
"Es war eine Ehre"
"In diesen letzten drei Minuten haben wir noch mal erlebt, was in einem Trainerleben alles möglich ist", würde Hitzfeld später sagen. Das durfte man durchaus als historische Einordnung werten. Wenn es darum geht, wie viel Drama in drei Minuten eines Trainerlebens passt, gibt es wohl kaum eine kundigere Fachkraft als Hitzfeld. Stichwörter: Barcelona, Manchester United, Teddy Sheringham, Ole Gunnar Solskjær.
Diesem Kapitel darf Hitzfeld nun die Schlagworte São Paulo, Argentinien und Lionel Messi hinzufügen. "Mein Beruf ist beendet, ich bin stolz auf meine Laufbahn", schloss Hitzfeld die Pressekonferenz. Seinen Abschied hatte der 65-Jährige vor Monaten öffentlichwirksam vorbereitet, doch nun, als es so weit war, befiel den stets disziplinierten General tatsächlich so etwas wie Pathos. Es sei ihm "eine Ehre gewesen, für dieses Land", für die Schweiz, "tätig zu sein".
25 Titel hat Hitzfeld in seiner Trainerkarriere gewonnen. Beinahe hätte er ein WM-Viertelfinale mit den Schweizern in den Lebenslauf aufnehmen können. So bleiben großartige Verdienste im Klubfußball, unter anderem fünf deutsche Meistertitel und ein Champions-League-Triumph mit den Bayern, zwei Ligatitel und ein Sieg in der Königsklasse mit dem BVB. Wo Hitzfeld war, zog Erfolg ein. Wo er war, herrschte Disziplin, auch in Zeiten sportlicher Turbulenzen, auch in Mannschaften mit Spielern wie Effenberg, Kahn, Sammer oder Möller. "Er ist nicht nur ein großer Trainer, sondern auch ein großer Mensch", sagte Freiburgs Nationalspieler Gelson Fernandes am Dienstag.
Seine Spieler mussten ihn schon in die Luft werfen, wenn sie ihn ausgelassen jubeln sehen wollten. Ansonsten wahrte Hitzfeld immer Würde, Disziplin, sogar beim Torjubel. Niemand zelebrierte so schön auf dem Fleck, Oberkörper steif, beide Hände zu Fäusten geballt. Niemand ertrug bange Momente so stoisch. Kaum einer schaffte es, seiner Mannschaft diese Sturheit beizubringen, sich nicht der Niederlage zu fügen. Im Mai 2001, der FC Bayern verspielte gerade beim Hamburger SV in den letzten Minuten der Ligasaison die Meisterschaft gegen Schalke 04, in diesen Minuten kauerten die Münchner regungslos am Spielfeldrand, starrten in die Luft. Hitzfeld richtete sich die Krawatte, ballt die Hände, er rief: "Kommt Jungs, kommt Jungs, kommt Jungs!"
Vier Minuten später war der FC Bayern Deutscher Meister.
Ottmar Hitzfeld hat viele Bilder geschaffen. "Es ist das letzte Bild, das bleibt", wurde er einmal zitiert. Am Dienstag in São Paulo schritt er durch den Strafraum, dort, wo seine Spieler gerade zu Boden geplumpst waren. Er gab jedem Spieler die Hand. Dann verschwand er in der Kabine.
Mit Material von dpa und sid