Oscar Pistorius:Der Überlebensgroße unter Mordverdacht

Oscar Pistorius ist nicht nur ein Sportler, sondern eine beinahe übermenschliche Figur. Er hat andere Menschen zu einem besseren Leben inspiriert. Nun steht er im Verdacht, seine Freundin erschossen zu haben.

Von Jürgen Schmieder

Wenn die Sportler bei den Olympischen Spielen in London zu den Reportern kamen, um über ihre Leistungen, ihre Eindrücke und nicht selten über ihr komplettes Leben zu sprechen, dann konnte man diese Athleten ganz grob in drei Kategorien einteilen:

Es gab jene, denen die Fragerei unangenehm war, die unsicher oder genervt nach links und rechts blickten, ob sie nicht einer erlösen könne - ein Trainer, ein Kollege, zur Not auch ein Dopingkontrolleur.

Es gab andere, die geduldig dastanden und die Aufmerksamkeit mitunter genossen. Die sich selbst vermarkteten als lebende Legenden, furchtlose Rebellen oder Opfer der Unfähigkeit der Londoner Kampfrichter. Denen es nichts ausmachte, dass da teils Dutzende Reporter vor ihnen standen und wild durcheinander Fragen brüllten.

Und es gab Oscar Pistorius.

Er war der Hingucker bei den Olympischen Spielen 2012, er war der beinlose Olympia-Debütant, den alle nur "Blade Runner" nannten oder den "schnellsten Mann der Welt ohne Beine". Die Pressekonferenzen waren mindestens so gut besucht wie die von Usain Bolt oder Michael Phelps und dauerten auch genauso lange.

Nach seinen Läufen - er scheiterte letztlich im Halbfinale - stand er stundenlang bei den Journalisten, er hörte sich geduldig jede Frage an. Und wenn keiner mehr eine Frage hatte, dann stellte sich Pistorius mitunter selbst welche. Er sprach von einer "Wahnsinnserfahrung", dabei sein zu dürfen unter den Ringen und als Keinbeiniger gegen Zweibeinige zu laufen.

Dieser Oscar Pistorius steht nun unter Mordverdacht.

Er hat am Donnerstagmorgen offenbar seine Lebensgefährtin erschossen, laut Polizeiangaben wurde die 29 Jahre alte Reeva Steenkamp mit vier Schüssen in Brust und Kopf getroffen, sie starb am Tatort, im Haus von Pistorius. Dort finden die Ermittler eine eine 9-Millimeter-Pistole, es gibt keine Augenzeugen, das Paar war zum Tatzeitpunkt allein.

Pistorius wird festgenommen - unklar ist, ob der Sportler seine Freundin für eine Einbrecherin gehalten hatte oder nicht. Die Gefahr von Einbrüchen ist stets gegenwärtig in Südafrika, Pistorius gab in Gesprächen an, in seinem Haus in der Wohnanlage der Silverwoods Country Estate stets einen Revolver in Griffweite habe, dazu noch andere Waffen wie Baseballschläger und auch semiautomatische Schusswaffen.

Im Hause des Paralympics-Goldmedaillengewinners habe es in der Vergangenheit mehrfach Vorfälle häuslicher Gewalt gegeben, sagte Polizeisprecherin Denise Beukes in Pretoria. Auch deshalb habe die Staatsanwaltschaft eine Freilassung auf Kaution abgelehnt. Auch deshalb laufen Ermittlungen wegen Mordes.

"Die einzige Person, die genau sagen kann, was passiert ist, ist Oscar selbst", sagt sein Vater Henke Pistorius. Es gibt Fotos von Oscar Pistorius, wie er nach der ersten Anhörung die Polizeistation verlässt: Er verbirgt sein Gesicht unter einer grauen Kaputze. Er soll über Nacht in Polizeigewahrsam bleiben und am Freitag einem Haftrichter in Pretoria vorgeführt werden.

Er ist ein Freak, dieser Oscar Pistorius - und damit ist keineswegs die körperliche Behinderung gemeint, sondern vielmehr das, worüber nach den Spielen in der New York Times zu lesen war: "Es ist eigentlich ein Skandal, dass Michael Phelps, Usain Bolt und Oscar Pistorius rein technisch zur gleichen Spezies gehören wie wir alle." Freak, das soll ein Kompliment sein in diesem Zusammenhang, wie Hugh Herr betont, der Leiter der Biomechatronics Group am MIT in Cambridge. Freak bedeute in diesem Fall, dass er mit physischen Talenten gesegnet sei, die Normalsterbliche nicht haben.

Pistorius, der aus einer bekannten und betuchten Familie stammt, kam aufgrund eines genetischen Defekts ohne Wadenbeine zur Welt, in Südafrika im November 1986 war das. Im Alter von elf Monaten amputierten ihm die Ärzte beide Beine unterhalb des Knies, er bekam Prothesen. Nur drei Monate später konnte er gehen: "Morgens hat meine Mutter zu meinen Geschwistern gesagt: Zieht eure Schuhe an. Und zu mir: Oscar, zieh deine Prothesen an."

Um die Wette mit den Schnellsten der Welt

Pistorius wollte Sportler werden. In den zahlreichen Porträts über ihn ist zu lesen, dass er bereits als Kind überaus hart trainierte und nicht nur bereit war, an seine Grenzen zu gehen - sondern wild entschlossen war, diese Grenzen zu verschieben. Der Tod seiner Mutter, Oscar Pistorius war 15 Jahre alt, sei eine zusätzliche Motivation gewesen.

Er wurde Läufer, gewann bei den Paralympischen Spielen 2004 in Athen die Goldmedaille über 200 Meter und Bronze über 100 Meter, in Peking 2008 siegte er über 100, 200 und 400 Meter. Irgendwann zwischen diesen beiden Wettbewerben, da fragte sich dieser Oscar Pistorius, ob er nicht auch gegen nichtbehinderte Konkurrenten antreten könne.

Das lag freilich auch daran, dass ihm bei den Paralympics mitunter unterstellt wurde, einen Vorteil zu haben, weil er an die Prothesen gewöhnt sei, seit er ein kleines Kind war - während manche Konkurrenten erst viel später die Beine amputiert bekommen hätten. Das passte zu den Wirrungen und Widersprüchen des paralympischen Sports, bei dem Menschen mit ganz unterschiedlichen Behinderungen irgendwie in einem Wettkampfsystem zusammengebracht werden müssen.

Warum also nicht, dachte sich Pistorius, warum nicht gegen die Menschen ohne Behinderung antreten? Er lief Rennen in Südafrika und wurde schließlich zu Meetings auf der ganzen Welt eingeladen. Er selbst bezeichnete sich nicht als behindert, sondern verwies stets darauf, lediglich keine Beine zu haben. Das brachte ihm Kritik von der paralympischen Gemeinde ein, weil die Aussage so verstanden wurde, dass sich Pistorius nicht als Teil der paralympischen Welt sehen wollte.

"Meet the Superhumans!"

Bei den nichtbehinderten Sportlern dagegen durfte Pistorius zunächst nicht antreten, weil der Leichtathletik-Weltverband IAAF der Meinung war, dass der Prothesenlauf nicht vergleichbar sei mit dem Lauf eines Mannes, der zwei natürliche Beine besitzt. Der internationale Sportgerichtshof CAS dagegen entschied, dass Pistorius sehr wohl starten dürfe. "Ich möchte nicht laufen, wenn ich einen Vorteil gegenüber anderen habe", sagte er. "Ich will es mit dem besten Training schaffen. Und ich trainiere sehr hart."

Er war nicht der erste Sportler mit Behinderung, der bei den Olympischen Spielen antrat. 2008 starteten bereits die beinamputierte Schwimmerin Natalie du Toit aus Südafrika und die Tischtennisspielerin Natalia Partyka aus Polen, die nur einen Unterarm hat und die auch 2012 wieder dabei war. Aber Pistorius ist eben der, der ohne natürliche Füße in der Lage ist, mit den schnellsten Männern der Welt um die Wette zu laufen.

Der Hype um Pistorius lag auch daran, dass er bei aller Bescheidenheit diesem Hype nicht abgeneigt war. Er genoss seine Besonderheit und seine Rolle als Märtyrer, sein Kampf um einen Olympia-Startplatz wurde professionell vermarktet. Er ist ein Medienprofi, der sich zu inszenieren weiß und der es genießt, wenn andere ihn bewundern.

Er war - und das darf man keinesfalls unterschätzen - eine Inspiration für viele Menschen mit Behinderung, er trat 2012 nicht nur bei den Olympischen Spielen an, sondern startete zwei Wochen später auch bei den Paralympics - und gewann dort zwei Goldmedaillen und ein Mal Silber. Dass er sich erbost darüber zeigte, dass sein Bezwinger Alan Oliveira mit ungewöhnlich hohen Prothesen unterwegs gewesen sei, war schnell vergessen.

Die Paralympischen Spiele 2012 wurden von einem englischen TV-Sender beworben mit dem Spruch: "Meet the Superhumans!" Während dieser Wochen in London, da wirkte dieser Oscar Pistorius tatsächlich übermenschlich, überlebensgroß. Er hat andere Menschen zu einem besseren Leben inspiriert.

Nun steht er im Verdacht, einem anderen Menschen das Leben genommen zu haben.

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