Süddeutsche Zeitung

OSC Lille:Die Underdoggen aus dem Norden

Außenseiter OSC Lille kann sich am Sonntag in Angers die französische Meisterschaft sichern - vor dem Starensemble von Paris Saint-Germain. Dabei ist der Klub finanziell klamm und verhinderte im Winter nur knapp den Kollaps.

Von Stefan Galler

Am späten Abend des Pfingstsonntags könnte Mauricio Pochettino eine Aussage um die Ohren fliegen: Gleich bei seinem Amtsantritt hatte der Trainer von Paris Saint-Germain im Januar den Mund recht voll genommen und in seiner ersten Pressekonferenz als Nachfolger von Thomas Tuchel betont, dass es für einen Klub mit der Strahlkraft von PSG nicht nur wichtig sei zu gewinnen - man müsse dies auch stets "mit Stil" tun. Ins Saisonfinale der Ligue 1 startet nun aber nicht der hohe Favorit Paris von der Pole Position aus, sondern der OSC Lille. Dem erfolgsverwöhnten Hauptstadtklub droht, ob mit oder ohne Stil, eine schmerzhafte Niederlage: der Verlust der Meisterschaft, die Paris nicht zuletzt dank der Milliarden aus Katar in den vergangenen acht Jahren sieben Mal erringen konnte.

Das ist umso bemerkenswerter, weil der Herausforderer aus dem hohen Norden Frankreichs noch 2018 beinahe abgestiegen wäre und seit geraumer Zeit mit existenziellen Finanzproblemen kämpft. 80 Punkte sammelte Lille, die Mannschaft von Coach Christophe Galtier, 54, in den bisherige 37 Saisonspielen. Der Außenseiter liegt damit vor der letzten Runde (Sonntag, 21 Uhr) einen Punkt vor PSG und drei vor der von Niko Kovac trainierten AS Monaco, die noch mit Verfolger Lyon um den dritten Champions-League-Platz kämpft. Letzter Gegner der "Doggen" aus Lille, wie der Spitzenreiter wegen seiner Wappentiere genannt wird, ist der Tabellenzwölfte SCO Angers, für den es am Sonntag um nichts mehr geht, außer Dauertrainer Stéphane Moulin (seit 2011) einen schönen Abschied zu schenken - der verlässt Angers zum Saisonende, womit Freiburgs Christian Streich künftig der am längsten amtierende Trainer in den fünf europäischen Top-Ligen sein wird.

Zuletzt gegen St. Etienne hielt die Mannschaft dem Druck nicht stand. Torjäger Yilmaz glaubt dennoch fest an den Titel

Die Frage ist, ob die Lillois, denen es an Routine in Titelentscheidungen mangelt, ihre Nerven in den Griff kriegen. Zuletzt verpassten sie durch ein 0:0 gegen St. Etienne einen vorentscheidenden Schritt zur Meisterschaft, weil sie unter dem Druck verkrampften. Burak Yilmaz, der erfahrene türkische Torjäger, brüllte nach dem Abpfiff im Kabinentrakt Durchhalteparolen: "Macht euch keine Sorgen! Wir werden Meister. Ihr seid kämpfende Hunde." Dagegen wirkte OSC-Trainer Galtier eher nachdenklich: "Ich werde mit meinen Spielern sprechen, damit wir ruhiger werden. Die Mannschaft war heute in den ersten 25 Minuten so angespannt, dass ich sie kaum wiedererkannte."

In den Wochen zuvor hatte der OSC fast immer die Nerven bewahrt, Paris wurde im Topspiel ebenso besiegt (1:0) wie Lyon, als Lille einen 0:2-Rückstand durch Yilmaz (zwei Tore) und den jungen Kanadier Jonathan David spektakulär drehte. Nur 21 Spieler setzte Galtier in dieser Saison ein, obwohl Lille bis zum Aus gegen Ajax Amsterdam auch in der Europa League mitwirkte. Der Coach vertraut meistens auf ein kompaktes 4-4-2-System, seine vom portugiesischen Routinier José Fonte organisierte Abwehr lässt wenig zu. Schillerndste Kadermitglieder sind neben dem türkischen Trio Yilmaz, Yazici und Zeki Celik der frühere FC-Bayern-Spieler Renato Sanches - und Timothy Weah, Sohn der Milan- und PSG-Legende George Weah. Sie alle gliedern sich in die Gruppe ein, nehmen ohne Murren auch mal auf der Bank Platz. Das Kollektiv arbeitet unermüdlich, Extravaganzen gibt es im Gegensatz zum Pariser Starensemble nicht. Deshalb würden viele Franzosen dem Underdog aus dem Norden den Titel gönnen.

Im Winter war der Klub von der Pleite bedroht, Präsident Lopez verkaufte ihn an einen Investmentfonds

Und doch ist das Gebilde Lille fragil. Ein wirtschaftlicher Zusammenbruch konnte im Winter nur vermieden werden, weil der damalige Präsident, Unternehmer Gerard Lopez aus Luxemburg, den Klub verkaufte. Der Hauptanteilseigner, die US-amerikanische Fondsgesellschaft Elliott, die 225 Millionen Euro in den OSC gepumpt hatte, bestand auf Rückzahlung größerer Teile der gewährten Darlehen. Lopez sah sich außer Stande, die enormen Summen aufzubringen, ohne einen Großteil der besten Spieler noch im Januar zu verramschen. Der Investmentfonds Merlyn Partners übernahm die Schulden, der Präsident trat zurück. Für ihn übernahm Olivier Letang den Chefsessel, ein ehemaliger Profi, der zuletzt Präsident von Stade Rennes und davor Sportdirektor von PSG war.

Sollte es am Sonntagabend tatsächlich mit der Meisterschaft klappen, wäre es die Krönung einer fast romantischen Geschichte. Zuletzt hatte Lille 2011 sogar das Double geholt, mit dem aktuellen Lyon-Trainer Rudi Garcia und Spielern wie Eden Hazard, Gervinho, Adil Rami oder Mathieu Debuchy. Hazard war 2012 auch der erste hoch rentable Verkauf, er ging für 40 Millionen Euro zum FC Chelsea. Lilles Meisterteam brach auseinander, es folgte ein sportlicher Niedergang, der bis heute finanziell nachwirkt und vor drei Jahren unter Trainer Marcelo Bielsa fast in der Zweitklassigkeit geendet hätte - wäre Galtier nicht gerade noch die Rettung gelungen.

Seither geht es bergauf, schon 2019 qualifizierte man sich zum ersten Mal nach sieben Jahren für die Champions League. Zudem trug das Geschäftsprinzip, günstige Spieler in Lille groß zu machen und dann teuer zu verkaufen, ordentlich Früchte. 2019 erbrachte Angreifer Nicolas Pépé (zu Arsenal) 80 Millionen Euro, im Vorjahr gab Lille den früheren Wolfsburger Victor Osimhen für 70 Millionen an Neapel ab.

Egal ob Meister oder nicht, im Sommer droht der große Exodus

Auch diesmal wird das OSC-Team, egal wie der Titel-Zielspurt ausgeht, nicht zusammenbleiben. Torwart Mike Maignan, der in Frankreich als designierter Nachfolger von Weltmeister Hugo Lloris gilt, wechselt wohl zum AC Mailand, wo Gianluigi Donnarumma auf dem Absprung zu sein scheint. Renato Sanches soll ein Wunschkandidat des neuen Roma-Trainers José Mourinho sein.

Auch der Architekt des Lille-Erfolgs, Trainer Galtier, dürfte seine tadellose Reputation nutzen, um den Schritt zu einem finanziell potenteren Klub zu wagen. OGC Nizza, das der britische Milliardär Jim Ratcliffe zu einem Spitzenteam aufmotzen will, buhlt ebenso wie Lyon um Galtiers Gunst. Als Nachfolger für den charismatischen Coach sind in Lille zwei alte Bekannte im Gespräch: der frühere National- und PSG-Trainer Laurent Blanc - und, ebenfalls mit Frankreich-Erfahrung (Nizza) ausgestattet: Lucien Favre.

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