Süddeutsche Zeitung

Olympische Spiele in Peking:"Ein Desaster. Schlecht. Unglaublich."

Russlands Sport im Schockzustand: Weil die Medaillenbilanz nicht stimmt, greift nun sogar Wladimir Putin ein.

Jens Weinreich

Gennadi Schwets geht dorthin, wo es weh tut. Schwets ist Pressesprecher des NOK von Russland. Wenn es heikel wird, setzt er die verbale Blutgrätsche an. Da kennt er nichts. Liest man seine Aussagen im Archiv nach, ergibt sich ein Bild eines unbarmherzigen Apparatschiks. Schwets hat Kritiker schon bei den Winterspielen 2002 in Salt Lake City niederkartätscht, als die gedopten Langläuferinnen Danilowa und Lazutina und die Preisrichter-Manipulation im Paarlaufen für weltweit beachtete Skandale sorgten.

Das Ansehen des russischen Sports werde "beschmutzt", wetterte Schwets. Beschmutzt von außen, nicht von innen. Als am 8. August 2008, am Tag der Eröffnungsfeier in Peking, Bomben auf Südossetien fielen, bezeichnete Schwets den georgischen Präsidenten Saakaschwili als "dumm, kriminell und geisteskrank". Kurz zuvor hatte IOC-Medizinchef Arne Ljungqvist von "systematischem Doping" im russischen Team gesprochen, nachdem ein gutes Dutzend Top-Leichtathleten vom Weltverband IAAF wegen Urinpantschereien suspendiert wurden. "Das ist eine Vorverurteilung", schimpfte Schwets. "Man will uns bewusst in Schwierigkeiten bringen."

Sitzt man Gennadi Schwets gegenüber, erhält das Bild Konturen. Schwets ist froh, russische Worte einflechten zu können, wenn sein Englisch nicht weiter hilft. Es kann durchaus sein, dass er hier und da missverstanden wurde, als seine Attacken in die Weltpresse gelangten. Schwets hat nicht viele englische Vokabeln auf Lager. Zudem: Als Russe neigt er zu deftigen Aussagen. Dass er US-Außenministerin Condoleezza Rice als Drahtzieherin einer weltweiten Verschwörung wittert, die sich gegen den russischen Sport richtet, nun ja, darauf muss man nicht viel geben. So sind sie, die Russen.

Maximal 55 Plaketten

Interessanter ist, was Schwets zum bisherigen Abschneiden des russischen Teams in Peking erzählt. "Ein Desaster. Schlecht. Unglaublich. Das sieht doch jeder." 1996 trat Russland erstmals mit eigener Mannschaft an und gewann 63 Medaillen (26 Gold, 21 Silber, 16 Bronze). In Sydney (88/32/28/28) und Athen (92/27/27/38) ging es voran. Man wähnte sich auf Augenhöhe mit den anderen Weltmächten USA und China. Doch Peking versetzt die Russen in einen Schockzustand.

Bis Dienstagabend waren es zehn Gold-, 14 Silber- und 18 Bronzemedaillen. Russland lag sogar hinter Großbritannien, Australien und Deutschland. "Die zweite Woche ist zwar immer unsere stärkste", sagt Schwets. Doch diesmal hat er wenig Hoffnung. Er malt zwei Zahlen auf einen Notizblock: 17 Goldene werden es, 55 Plaketten insgesamt. 55 statt zuletzt 92. "Maximal. Vielleicht ist das gut so. Wir brauchen diesen Schock, damit sich etwas ändert."

Ein Olympiasieg lohnt sich in Russland. Die Prämie vom Staat wurde von 50.000Dollar auf 100.000 Euro knapp verdreifacht. Als zusätzliche Sachprämien gibt es Autos und Wohnungen. Schwets schließt nicht aus, dass die Dopingenthüllungen die Leistungen anderer russischer Athleten beeinflussen, dass einige vorsichtiger werden. "Ich weiß es nicht. Ich will damit auch nichts zu tun haben", sagt er. "Wir sind erst am Anfang der Ermittlungen."

Ministerpräsident Wladimir Putin ruft täglich mehrfach bei NOK-Chef Leonid Tjagatschow an und verlangt Erklärungen. Am Montag hat Putin in der Kabinettsitzung über die Medaillenflaute gesprochen. Es werden Köpfe rollen. Tjagatschow, ein ehemaliger alpiner Skiläufer, der auch in Österreich beheimatet ist, tröstet sich im Hyatt Regency, wo der NOK-Ausrüster Bosco eine Lounge hat, mit Hochprozentigem.

Noch hat er Putins Gunst. Das kann sich schnell ändern. Putin hat die meisten Präsidentenämter in den olympischen Verbänden neu besetzen lassen. Er mischt auch in Weltverbänden mit: So wurde etwa die Übernahme des Judo-Weltverbandes durch den gebürtigen Rumänen Marius Vizer in Putins Residenz in Sotschi ausgehandelt. Wladimir Putin liebt Judo, er ist Träger des Schwarzen Gürtels.

40.000 Euro pro Monat für einen PR-Mitarbeiter

Gennadi Schwets trinkt keinen Wodka. Seit zehn Jahren nicht. Er muss die Lage anders verarbeiten. Gerade hat er im Olympischen Dorf dem neuen Sportminister Witali Mutko erklärt, dass es so nicht weiter geht. Mutko ist ein wichtiger Mann aus Putins Gefolgschaft. Anfang der neunziger Jahre war Mutko in St. Petersburg neben Putin gleichrangiger Stellvertreter des Bürgermeisters Anatoli Sobtschak.

"Mutko wird sich um den olympischen Sport kümmern", glaubt Schwets, obwohl Mutko als russischer Fußballpräsident ein Mann der Oligarchen und des Profisports ist. Für Wjatscheslaw Fetissow, der bislang im Range eines Sportministers agierte, hat Schwets nur Spott übrig. "Der hat gegen uns gearbeitet." Fetissow habe seine Feindschaft zu Tjagatschow gepflegt, das Duell aber verloren.

Schwets ist 61 Jahre alt. Er war 15 Jahre olympischer Korrespondent der Komsomolskaja Prawda. Als sein Freund Tjagatschow vor sieben Jahren NOK-Präsident wurde, übernahm er den Posten des Pressesprechers. Er hat das nie gelernt. Er hat keinen Stab an seiner Seite. Schwets ist Einzelkämpfer. Im Büro des amerikanischen NOK dagegen, ein Stockwerk tiefer im Hauptpressezentrum, arbeiten allein zwei Dutzend Menschen, die sich mit Öffentlichkeitsarbeit beschäftigen. Und als sich Sotschi erfolgreich um die Olympischen Winterspiele2014 bewarb, wurden viele Kräfte der teuersten PR-Agenturen angeheuert. Manch einer kassierte 40.000 Dollar im Monat.

Zu den Versprechen, die Sotschis Bewerber im vergangenen Jahr vor dem IOC abgaben, zählte auch ein ambitioniertes Sportstättenprogramm. Bewerberchef Dmitri Tschernytschenko behauptete, Putin habe vier Milliarden Dollar für den Bau von 4000 ultramodernen Anlagen, darunter 750Schwimmhallen, bereitgestellt. Was ist daraus geworden? Schwets muss lachen: "Was man so verspricht, ich höre das zum ersten Mal." Tatsächlich ist es so: Aus einem Sportfonds, den bisher Präsident Medwedew verwaltet hat, werden jährlich 30 Millionen Dollar an Sportler und Trainer ausgeschüttet. Viel mehr gibt es nicht. "Die Milliarden", sagt Schwets, "könnten wir gut gebrauchen."

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Quelle:
SZ vom 20.08.2008/jüsc
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