Süddeutsche Zeitung

Sportpolitik:Finten im Hinterzimmer

EM, WM, noch eine EM: Manche Weltfachverbände unternehmen Erstaunliches, um Athleten aus Russland und Belarus den Weg zurück zum internationalen Wettkampfsport zu ebnen. Das illustriert: Die Turbulenzen im olympischen Sport nehmen zu.

Von Johannes Knuth

Am vergangenen Donnerstag erhielten viele Fechterinnen und Fechter ein Einladungsschreiben zu den Europameisterschaften, die Ende Juni in Krakau beginnen sollen. Viele hatten sich bis hierhin, so gut es ging, abgeschottet von allen Debatten, die ihren Sport umtosen. Umso unsanfter wurden sie nun aus ihrer Blase gerissen.

Aus dem Schreiben ging hervor, dass ein Teil der Wettbewerbe in Krakau massiv an Wert einbüßen soll. Zugleich soll im kommenden Herbst hastig eine zweite EM anberaumt werden - ein Novum und Quell neuer, großer Verunsicherung. Das Chaos in ihrem Sport, sagt die deutsche Säbelfechterin und Athletensprecherin Lea Krüger im Gespräch, erreiche gerade "so ein bisschen einen Höhepunkt". Das impliziert freilich, dass das Chaos bald noch ein bisschen wilder werden könnte.

Die Fechter, so muss man diese neue Episode des olympischen Irrsinns beginnen, haben in diesem Jahr zwei Höhepunkte im Plan, bei denen sie sich besonders viele Punkte für die Qualifikation für die Olympischen Spiele 2024 in Paris beschaffen können: die EM in Krakau, kurz darauf die Weltmeisterschaften in Mailand. Beide Anlässe, so will es der Weltverband FIE, sollen wieder Athleten aus Russland und Belarus willkommen heißen - unter angeblich strengen Konditionen, trotz des anhaltenden Krieges in der Ukraine.

So hatte es das Internationale Olympische Komitee (IOC) mit seinem deutschen Präsidenten Thomas Bach zuletzt "empfohlen". Und so hatte es die FIE auch umgesetzt, sogar bevor das IOC seine Anregungen erlassen hatte.

Nur: Der europäische Fecht-Verband (EFC), der die EM verantwortet, sperrt sich seit Wochen dagegen. Nun kann sich ein Weltverband im Grunde nicht in die Belange eines Kontinentalpartners einmischen. Die FIE kann es diesmal aber doch - denn bei der EM werden Punkte für die Olympiazulassung verteilt, und die fällt in den Hoheitsbereich der FIE. Der Weltverband versuchte zuletzt dem Vernehmen nach sogar, die EM aus Polen abzuziehen, da Athleten aus Russland und Belarus dort wohl keine Visa erhalten würden (die FIE ließ mehrere SZ-Anfragen unbeantwortet). Der Europaverband parierte jedenfalls alle Einmischungen bis zuletzt.

Eine zweite EM läge mitten in der dringend benötigten Saisonpause

Dann setzte das Exekutivkomitee der FIE offenbar eine neue Finte: Alle Athleten, die in Krakau in den Einzelevents der EM starten, sollen keine Punkte für die Olympiaqualifikation erhalten, beschloss es jetzt. (Die Team-Wettbewerbe bleiben unberührt, dort bleiben Athleten aus Russland und Belarus ausgeschlossen.) Er habe sich schwer dagegen gestemmt, schrieb Giorgio Scarso, der Präsident der EFC, in einem Brief. "Nach hitziger Debatte" habe die Exekutive der FIE aber nun mal so entschieden, "mit nur drei Gegenstimmen".

Auch habe die FIE bewilligt, dass man stattdessen noch ein EM-Turnier für die Individualevents initiieren wolle, bei dem sich Punkte für die Olympiaqualifikation erwerben lassen - an einem Ort, an dem auch Athleten aus Russland und Belarus Zugang erhalten. Diese Titelkämpfe sollen laut Scarsos Brief im Oktober steigen, kurz nach der eigentlichen EM und der WM. Also "mitten in der Saisonpause", wie Lea Krüger sagt, in der Erholungsphase, die man in einem derart stressigen Jahr besonders benötige. Das benachteilige alle europäischen Fechter im Vergleich zum Rest der Welt.

Krüger ärgert es mindestens genauso, dass das IOC es jetzt den Weltfachverbänden überlasst, ob und wie sie Athleten aus Russland zulassen; woraufhin sich nun manche in gewaltige Anstrengungen knien, um dieser kleinen Gruppe den Zugang freizuschaufeln. Das, findet Krüger, sei "unzumutbar und respektlos" gegenüber der großen Mehrheit. Die Entwicklungen bestärkten sie jedenfalls im Gefühl, dass die FIE sich "zum Spielball der Russen" mache. Es sei ja fraglich - und da steuert die Geschichte auf ihre vorläufige Pointe zu -, ob die Russen überhaupt starten werden.

Tatsächlich hatte die FIE einige Fechterinnen aus Russland zuletzt für einen Weltcup gesperrt, darunter die Olympiasiegerinnen Sofija Welikaja, Jana Jegorjan und Sofija Posdnjakowa. Das hatte Stanislaw Posdnjakow, Präsident des Nationalen Olympischen Komitees Russlands (ROK) und nebenbei Vater der Säbel-Olympiasiegerin Posdnjakowa, dazu verleitet, den Startverzicht der gesamten Auswahl gegenüber der russischen Nachrichtenagentur Tass so zu begründen: "Unsere Fechter werden nur teilnehmen, solange sie mit Athleten, die andere Länder vertreten, gleichgestellt werden, ohne erfundene und illegale Parameter." Das las sich wie ein Boykott aus Protest über die Bedingungen, die die FIE den Athleten auferlegte.

Hintergrund sind die Empfehlungen des IOC, die vorsehen, dass keine Athleten zugelassen werden sollen, die den Krieg in der Ukraine unterstützen oder dem Militär dienen - wobei diese Richtlinien teils scheunentorgroße Unklarheiten lassen. Welch kolossale Überraschung, dass die Weltverbände diese Vorgaben nun offenbar sehr variabel interpretieren: Die FIE hat laut einem unwidersprochenen Bericht der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung eine "unabhängige Cybersicherheitsfirma" und einen "unabhängigen Anwalt" mit der Recherche beauftragt. Der Judo-Weltverband erklärte wiederum, er überlasse die Arbeit ebenfalls einer "unabhängigen Firma", die aber - leider, leider -, "nicht genannt werden" könne. Acht russische Judoka fielen dabei vor der WM zuletzt durch, 19 Sportler aus Russland und Belarus durften starten, darunter ein Oberleutnant aus einem russischen Armeesportverein. Transparenz? Fehlanzeige.

Die Ukrainer zogen bei besagter WM, wie angedroht, ihr gesamtes Team zurück. Auch wenn viele ihrer Athleten es nicht gutheißen, dass sie das sportliche Parkett nun den Athleten aus dem Land des Kriegstreibers überlassen. Gleiches spielt sich gerade bei der Taekwondo-WM in Baku ab. Ähnliches wird man bald wohl auch im Bogenschießen erleben, im Kanu, Radsport, Golf, Modernen Fünfkampf, Schießen, Skateboarden, Tischtennis, Triathlon, Ringen. Andere Weltverbände indes sperren sich (noch), Athleten aus Russland und Belarus einzuladen: die Leichtathleten, Reiter, Kletterer, Surfer und Badmintonspieler etwa.

Sicher ist: Die olympische Spaltung ist in vollem Gang.

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