Süddeutsche Zeitung

Olympische Spiele 2020:Gute Miene auf steifen Beinen

Japans Marathonläufer sollen nicht nur Komparsen für Afrikas Ausdauerwunder sein.

Von Thomas Hahn, Tokio

Honami Maeda, die Gewinnerin der japanischen Marathon-Trials in 2:25:15 Stunden, hatte sich sicher aus gutem Grund vorzeitig aus dem Zielbereich ins Krankenhaus verabschiedet. Aber Ayuko Suzuki, als Zweite in 2:29:02 ebenfalls direkt qualifiziert für die Olympischen Spiele 2020, war fest entschlossen, dieses verdammte Siegerinnen-Interview zu machen, obwohl sie auch nicht mehr so richtig gut zu Fuß war nach der Plackerei über 42,195 Kilometer durch Tokios City. Auf steifen Beinen humpelte sie auf das niedrige Podium zu, auf dem das Interview stattfinden sollte. Es musste ihr vorkommen wie ein steil aufragender Berg. Mühsam krabbelte sie hinauf. Dann brachte sie ihre 1,54 Meter Körpergröße in den aufrechten Stand und bewältigte die Fragen mit guter Miene. Was sie fühle? "Offen gesagt: Erleichterung", sagte sie.

Olympische Spiele sind immer eine besondere Chance für die heimischen Athletinnen und Athleten. Alle wollen dabei sein, wollen die Wogen der Zuneigung spüren, welche die Landsleute im Publikum beim Großereignis entfachen. Aber olympische Heimspiele sind auch eine besondere Strapaze, die nicht erst mit dem Tag des Ereignisses beginnt, sondern viel früher: mit der Qualifikation. Genauer gesagt: mit der Qualifikation für die Qualifikation.

Die japanischen Marathonläuferinnen und -Läufer können davon besonders anschaulich erzählen, denn sie sind vom Spiele-Gastgeber nicht nur als freundliche Komparsen für afrikanische Ausdauerwunder eingeplant - sondern als potenzielle Medaillengewinner und Mitfavoriten. Japans Leichtathletik-Verband JAAF verlangt viel von seinen Langstrecklern, und am Sonntag veranstaltete er in Tokio ein Qualifikationsrennen, das kaum ein anderes Land mit so viel Qualität hätte besetzen können. 30 Männer und zehn Frauen hatten sich teilweise mit Weltklasse-Ergebnissen dafür empfohlen und kämpften um je zwei Olympiaplätze pro Geschlecht. Als "Grand Marathon Championship" lief das Ereignis, das zwei Fernsehsendern eine Live-Übertragung wert war, Fanklubs mobilisierte, Tausende von Menschen auf die Straße lockte und Hunderte vor zwei Public-Viewing-Schirmen auf dem Baseballfeld beim neuen Nationalstadion bannte.

Japan besitzt eine medaillenreiche Marathontradition. Sportvertreter des Landes klagen oft darüber, dass Nippons Sportler im Vergleich zu europäischen oder amerikanischen so klein gewachsen und schmal seien, weshalb sie beim Fußball oder Rugby nicht gut mithalten könnten. Aber beim Marathon kommt ihnen der sparsame Körperbau entgegen. Mit ihrem asiatischen Arbeitsethos ertragen sie außerdem eine Trainingsroutine, die sich nur wenige Europäer gefallen lassen würden. Und das System der japanischen Firmenteams bietet den Läuferinnen und Läufern die Möglichkeit, sich früh und fast ausschließlich auf ein Leben zwischen Training und Erholung zu konzentrieren.

Honami Maeda aus Hyogo zum Beispiel, 23, ist von der Schule direkt als Läuferin zu einer Warenhauskette gewechselt, bei der auch Rei Ohara, die Drittplatzierte des Tages, angestellt ist und eine ideale Trainingspartnerin abgibt. Ungerührt lief Honami Maeda den anderen nach 20 Kilometern davon und legte immer mehr Meter zwischen sich und den Rest, während Ohara die beste Verfolgerin Suzuki am Schluss fast noch eingeholt hätte.

Der Wettbewerb um die besten Langstreckenplätze ist heftig in Japan, vor allem bei den Männern. Der japanische Rekord liegt bei sehr sportlichen 2:05:50 Stunden, seit Suguru Osako, 28, im vergangenen Oktober auf der schnellen Strecke von Chicago in dieser Zeit auf Platz drei rannte. Davor lag die Bestmarke bei auch schon beachtlichen 2:06:11, erzielt im Februar 2018 von Yuta Shitara, 27, als Zweiter des Tokio-Marathons. 100 Millionen Yen (etwa 835 000 Euro) bringt ein japanischer Marathonrekord - zwei reiche Männer waren demnach die Favoriten auf der Strecke, auf der auch bei den Spielen 2020 der Marathon gelaufen werden soll. Aber dann lief Shitara zu früh zu schnell, büßte dafür, dass er als Führender zeitweise zwei Minute Vorsprung vor dem Rest hatte, wurde bei Kilometer 37 eingeholt, überholt, abgehängt. Und Osako kämpfte im Endspurt so verbissen wie vergeblich um die direkte Qualifikation. Shogo Nakamura, 26, ein relativ unbekannter Olympia-Anwärter, hatte das bessere Stehvermögen. Und Yuma Hattori, 25, Bestzeit 2:07:27, konterte Osakos Angriff auf Platz zwei. 2:11:41 zu 2:11:36 zu 2:11:28. Der Rekordler war geschlagen und klagte: "Ich hatte auf der letzten Hälfte keine Kraft mehr."

Die Chancen stehen gut, dass Suguru Osako trotzdem bei den Heim-Spielen startet. Die strengen JAAF-Regeln sehen vor, dass alle, die bei den Trials nicht Platz eins oder zwei belegten, einen weiteren Qualifikationswettkampf in Japan bestreiten müssen. Wer dabei 2:05:49 (bei den Frauen 2:22:22) oder schneller läuft, bekommt den Platz im Olympiateam. Schafft das niemand, qualifiziert der dritte Platz bei den Trials für die Olympia-Teilnahme. Eine Demonstration der japanischen Marathon-Stärke waren die Trials an diesem schönen, hellen Spätsommertag von Tokio auf jeden Fall. Die Hitze war nicht so feucht und erbarmungslos, wie sie das bei den Spielen im Juli und August wahrscheinlich sein wird. Trotzdem, das Rennen war hart für Körper und Geist, und Japans Läufer zeigten dabei, dass sie bei Olympia irgendwas gewinnen könnten.

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Quelle:
SZ vom 17.09.2019
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