Süddeutsche Zeitung

Olympische Spiele 1968:Vom Flop zum Hit

Der Amerikaner Dick Fosbury führt in Mexiko die spektakulärste Innovation in der Geschichte der modernen Leichtathletik vor. Nach seinem Goldmedaillengewinn gerät sein Stil im Mode.

Von Bertram Job

Die ungeteilte Aufmerksamkeit von siebzig- bis achtzigtausend Menschen in einem riesigen Stadion: Gunther Spielvogel hat nicht vergessen, wie sich das anfühlt. Er stand ja auch in dem olympischen Endkampf, der alle anderen Leichtathletik-Wettbewerbe dieses 20. Oktober 1968 in den Schatten stellte. Als etwa der Äthiopier Mamo Wolde als sicherer Sieger des Marathons in die Arena einlief, nahm zunächst keiner Notiz von ihm; alle starrten auf die Hochsprunganlage, wo ein 21 Jahre alter Amerikaner zum dritten und letzten Versuch über 2,24 Meter ansetzte - und die Höhe als Einziger übersprang, auf eine zuvor nicht gekannte Art und Weise - mit Kopf und Schultern voran und dann mit dem Rücken über die Latte. "Nach hundertfünfzig Metern haben die Zuschauer endlich bemerkt, dass da gerade ein Marathonläufer reingekommen ist", erzählt Spielvogel, halb mitfühlend und halb amüsiert, "dann erst kam der Beifall ..."

Sie waren eben alle nur Nebendarsteller, als Richard "Dick" Fosbury die spektakulärste Innovation in der Geschichte der modernen olympischen Leichtathletik vorführte. Doch auch seine zwölf Mitbewerber profitierten von der Aufregung. So fasziniert wie an diesem sonnigen Mittag haben selten so viele Menschen auf eine Hochsprung-Konkurrenz gestarrt, mehr als vier Stunden lang, und wer damals mit dem jungen Mann aus Oregon um die Medaillen kämpfte, ist für alle Zeiten mit im Film. Auch wenn sich wohl nur noch Insider an Ed Caruthers und Walentin Gawrilow erinnern, die hinter Fosbury Silber und Bronze gewannen mit 2,22 bzw. 2,20. Oder gar an Spielvogel, einen Südbadener mit oberschlesischen Wurzeln, der mit 2,14 Metern Siebter wurde - zwei Plätze vor dem Donauschwaben Ingomar Sieghart.

Spielvogel, der viermalige deutsche Hallenmeister, ist in diesem Endkampf direkt nach Fosbury gesprungen, das hat ihn auf dezente Art unvergesslich gemacht. Auf vielen Fotos vom Olympiasieger, der rückwärts über die Latte segelt, ist er eine kleine Figur oder Silhouette im Hintergrund. Spielvogel avancierte für den unerfahrenen Amerikaner nach dessen Siegessprung sogar zum Berater. Fosbury hatte gefragt, welche Höhe er nun auflegen lassen sollte, worauf ihm der Deutsche in passablem Englisch riet, auf 2,29 Meter zu gehen; das sei neuer Weltrekord. Dass aus dem dann nichts wurde, machte niemandem im Estadio de Azteca etwas aus: Die wegweisende Sensation war auch so perfekt, und die 2,24 Meter bedeuteten immerhin olympischen Rekord.

Heute ist der Fosbury-Flop im Hochsprung so dominant, wie es seinerzeit der Straddle war, bei dem sich die Athleten seitwärts über die Latte hieven. Und aus dem 24 Jahre alten Aktiven von Bayer Leverkusen ist ein 74 Jahre alter Sportlehrer im Ruhestand geworden. Ein Mann mit lebhaften Augen, der in Refrath bei Bergisch Gladbach in der neunten Etage eines Hochhauses lebt, zwischen Vitrinen mit Pokalen und Medaillen. Sie zeugen von einem Allrounder, der als Student in der Volleyball-Bundesliga spielte und später noch bei den Senioren Titel gewann: Er war deutscher Meister im Faustball wie im Squash, dazu viermal Weltmeister im Hochsprung. Im November wird er am Knie operiert, "das Schwungbein", betont er, "nicht das Sprungbein". Die Spätschäden hat er ebenso wenig geahnt wie den Siegeszug der neuen Technik in seiner Paradedisziplin.

Völlig unvorbereitet war er nicht. Auch er hatte vor den Spielen Zeitungsfotos gesehen, die Fosbury bei den amerikanischen Olympia-Ausscheidungen zeigten. Es war wohl auch ein Reporter, der dem neuen Stil den Namen gab, als er beschrieb, wie Fosbury neuerdings auf die Matte plumpst - "to flop" ist das englische Verb dafür. Bei der Qualifikation am 19. Oktober waren dann trotzdem alle "verblüfft, wie locker der mit seiner Technik die Latte überquert. Da haben wir schon geahnt, wie schwer es wird, ihm Paroli zu bieten". Zumal Spielvogel wegen einer gereizten Patellasehne "etwas verkrampft" ins Finale ging. "Wir hatten uns viel mehr vorgenommen", erzählt er, beim vorolympischen Trainingslager in Flagstaff/USA, "bin ich ganz locker über 2,18 gesprungen, da hatte ich gehofft, in die Medaillenränge zu kommen".

Fosbury war mit dem sogenannten Western Roll, der damals geläufigsten Variante des Straddle-Stils, nicht über 1,63 Meter hinausgekommen. Also stellte der hoch aufgeschossene Student der Oregon State University mit Erlaubnis seines Coaches Bernie Wagner im Training gelegentlich auf die alte Scherenschlag-Technik um. Aus dessen Bewegungsmustern habe sich dann der Flop für ihn wie von selbst ergeben, erzählte Fosbury später immer wieder - auch wenn Trainer Wagner den neuen Stil zunächst für eine "Abkürzung ins Mittelmaß" hielt. In Mexiko-Stadt kamen dem Athleten dann auch technische Innovationen in der Leichtathletik entgegen. Die neuen Kunststoffbahnen begünstigten einen schnelleren Anlauf und einen dynamischen Absprung, und die Weichbodenmatten federten die Landung wirksamer ab als alle bisherigen Lösungen. Ähnlich wie die elektronische Zeitnahme, die seinerzeit die in der Hand gehaltene Stoppuhr ersetzte, war das ein spürbarer Fortschritt: Keiner musste mehr Angst haben, auf einem nassen oder festgedrückten Sandhaufen aufzukommen.

Auch Gunther Spielvogel ist in den Sechzigerjahren gelegentlich noch in Weitsprung-Gruben gelandet, wenn er quer über die Latte setzte. Dennoch hätte er damals gewettet, dass aus dem Flop auf längere Sicht kein Hit wird: "Rückwärts weiß man nicht, wohin man springt, da haben viele Leute vielleicht Hemmungen. Man sieht den Abstand zur Latte nicht und weiß nicht: Komm ich gut auf dem Rücken auf oder doch auf dem Kopf ..." Das traf sich mit den verbreiteten Bedenken, der Flop-Stil könnte zu schweren Verletzungen bis hin zum Genickbruch führen. Dass es anders kam, hat der Diplom-Sportlehrer beim LAZ Bergisch-Gladbach/Bensberg sowie am Bensberger Otto-Hahn-Gymnasium aus erster Hand erlebt. Dort lehrte er mehr als 37 Jahre Jugendliche und Schüler unfallfrei beide Sprungtechniken; die besten brachte er über zwei Meter. "Es gab auch welche, die mit dem Straddle schneller und besser zurechtkamen", sagt er.

Sein Dauerkonkurrent Thomas Zacharias, der in Mexiko in der Qualifikation scheiterte, hat in eigenen Studien später die Theorie aufgestellt, dass die Straddle-Technik unter biomechanischen Aspekten vergleichsweise sogar mehr Erfolg verspreche. Die weitere Entwicklung der Weltelite zeigt jedoch eine andere Tendenz. Nach dem Sowjetrussen Jüri Tarmak (1972 in München) ist kein Straddle-Springer mehr Olympiasieger geworden, und die größte je in diesem Stil gemeisterte Höhe steht bei 2,35 Meter, 1978 von Wladimir Jaschtschenko (UdSSR) erzielt. Das sind zehn Zentimeter weniger als die Freiluft-Marke von Flop-Springer Javier Sotomayor aus Kuba. Ähnlich verhält es sich bei den Frauen, wo Rosemarie Ackermann vom SC Cottbus 1976 das letzte olympische Gold für eine Straddle-Springerin gewann. Ihre Höchstmarke von 2,00 Metern, die sie 1977 in Berlin erreichte, liegt neun Zentimeter unter der von Flop-Springerin Stefka Kostadinowa aus Bulgarien.

Es war also eine Zäsur, die Gunther Spielvogel vor 50 Jahren als Aktiver und Zeitzeuge erlebt hat, und die Olé-Rufe, die bei den Sprüngen von den Rängen kamen, bleiben ihm auf ewig im Ohr. Dem netten Mr. Fosbury ist er nie wieder begegnet. Was vor allem daran lag, dass dieser sich schon ein Jahr später vom Leistungssport zurückzog und sein Studium beendete. Bald darauf verabschiedete sich Fosbury in die Provinz von Idaho, wo er bis heute als Farmer, Vermessungsspezialist und erfolgreicher Unternehmer lebt.

Spielvogel hingegen zog durch. 1971 wurde er endlich auch deutscher Meister im Freien, ein Jahr später verpasste er die Olympischen Spiele im eigenen Land - der deutsche Verband wollte ihn wegen einer Verletzung nicht nominieren, obwohl er die Qualifikationshöhe geschafft hatte.

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Quelle:
SZ vom 20.10.2018
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