Olympische Bobbahn in Sarajevo:Löcher im Labyrinth

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Die Rodel- und Bobbahn der Olympischen Spiele 1984 in Sarajevo, fotografiert im Dezember 2014. (Foto: Volker Kreisl)

Die Olympia-Bahn von Sarajevo war lange ein vergessenes Bauwerk im Wald. 30 Jahre nach den Winterspielen kamen sieben bosnische Männer. Sie haben einen kühnen Traum.

Von Volker Kreisl, Sarajevo

In der Rodelbahn stand ein Baum. Eine Kiefer, knapp zwei Meter hoch. Ihren Samen hatte wohl der Wind aus dem wuchernden Wald kurz vor Kurve 13 in die Bahn geweht. Die dünne Humus-Schicht, die sich in den zwei Jahrzehnten seit dem Kriegsende gebildet hatte, genügte ihr.

Kiefern sind widerstandsfähig und beharrlich. Senad Omanovic hatte sie als Erster entdeckt, beim Aufräumen im Mai. Er hatte gerade damit begonnen, sich die Bahn zurückzuerobern. Senad Omanovic ist auch widerstandsfähig und beharrlich.

20 Jahre zuvor, während der Belagerung von Sarajevo, als er die Frontlinie sicherte, die den Stadtkern vom umkämpften Stadtteil Grbavica trennte, hatte er immer wieder an die Bahn auf dem Berg Trebevic hinter Grbavica gedacht. Die olympische Bob- und Rodelbahn, auf der sich 1984 die Besten der Welt gemessen hatten. 1996, als der Krieg vorbei war, fuhr Senad Omanovic mit einem UN-Offizier hinauf und zeigte sie ihm. Er wollte wissen, ob es Hilfe für den Wiederaufbau gebe, und der Offizier dürfte auch zu hören bekommen haben, was Omanovic, heute Präsident des bosnischen Rennrodelverbandes, immer wieder sagt: "Wissen Sie, Rodeln ist mein Leben."

"Sie haben uns für bekloppt erklärt", sagt Avdo Besic, der Generalsekretär des Verbandes, und Materialwart Miralem Cirkinagic nickt. Es war ja nichts da: kein Geld, keine Zuversicht, keine Einigkeit. "Sie haben gesagt, auf dieser Bahn wird nie wieder jemand rodeln", erinnert sich Omanovic, und Cirkinagic lächelt - vielleicht, weil er gerade daran denkt, wie hier in diesem Sommer das Nationalteam der Slowakei Trainingsläufe absolvierte, die man im Internet betrachten kann. Rodeln auf Rollen war es zwar. Aber Rodeln.

Omanovic hatte gelernt, dass er Geduld brauchen würde, auch für ein Projekt wie dieses, das zur Versöhnung beitragen könnte. Das den Sport in einer Stadt wiederbeleben könnte, deren Olympia-Anlagen verwitterten, als machten sie sich lustig über die olympische Idee von Frieden und Fortschritt. Will man also eine Rodelbahn ohne Finanzmittel aus dem Dreck buddeln und befahrbar machen, hatte Omanovic gelernt, "dann musst du Schritt für Schritt vorgehen. Von unten nach oben".

Es ist still unten im Zielraum. Die Dezembersonne späht über die Kiefernwipfel. Der Zielraum der Rodelbahn liegt da wie eine Ausgrabungsstätte. Fundamente vom Kampfrichterhaus haben sich behauptet, Tribünengestänge ragt aus dem Boden. Die Aufbauten aber, Dachziegel, Holzverschalung, Lichtmasten, wurden fortgeschafft. Baumaterial war knapp während des Krieges, und offenbar gab es auch keine Gullideckel. Einer der ersten Schritte von Omanovic beim Wiederaufbau der Bahn brachte ihn daher zum Arzt. Er fiel in ein Kanalloch im Zielraum.

Aber er hatte noch mal Glück. Die kleine Gruppe - Omanovic, Besic, Cirkinagic und vier der aktiven Rodler - arbeitete sich nach oben. Das erste Etappenziel war die Gerade auf halber Höhe vor der Kurve neun. Sie holten den Dreck aus der Bahn, arbeiteten sich durch Äste und Gestrüpp, sägten einen Stamm weg, der sich auf die Bahn gelegt hatte. Dann spritzten sie sie ab und kitteten und schliffen die Oberfläche.

Wer kein Geld hat, muss aufgeben oder sich was einfallen lassen. Omanovic entschied sich für das Zweite, schon immer, auch als er nach dem Krieg die Rodelabteilung aufbaute. Er stellte eine junge Mannschaft zusammen und fuhr sie mit seinem Kombi zum Training in den Norden, zum Königssee oder nach Innsbruck-Igls. Die Sportler, die fit sein mussten, schliefen in der Pension, Omanovic sparte und schlief nachts im Auto. "Wenn es zu kalt war, ist er eine Runde gefahren", erzählt Besic und grinst, "morgens hat er sich warme Milch gemacht: Tetrapack auf den Motorblock, Haube zu, Motor an, Milch warm."

"Tetrapack auf den Motorblock, Haube zu, Motor an, Milch warm."

Man kann das übertrieben finden, und Josef Fendt, der Weltverbandspräsident, fand es wohl auch des Guten zu viel, als er Omanovic eines Morgens aus dem Auto steigen sah; Fendt verschaffte ihm ein Quartier. Aber Omanovic' Rodler lernten weiter, sie lernten, wie man sich in der Bahn bewegt, einen Schlitten einstellt, die Ideallinie findet. Motorgewärmte Milch war ein Teil dieses Erfolgs, und sie ist auch nichts Außergewöhnliches, wenn man bedenkt, was Omanovic und seine Landsleute in den Jahren zuvor geprägt hatte.

Zunächst war da aber noch das große Fest, 1984. Von seinem Haus an der Ulica Zmaja od Bosne, der breiten Einfahrtsallee, war Omanovic während der Spiele jeden Tag losgezogen, um mit den Menschen aus aller Welt zusammenzuarbeiten. An der Bahn war er Kampfrichter, in der Stadt traf er auf Olympiareisende aus Ost und West, die trotz des kalten Krieges und der Blockaden der Sommerspiele ins blockfreie Jugoslawien gekommen waren. Sie trafen sich abends in den Kneipen der Innenstadt, in der seit Jahrhunderten eine Moschee, eine Synagoge, eine katholische und eine orthodoxe Kirche fast nebeneinander stehen.

Die Einfahrtsallee, die Zmaja od Bosne, wurde zehn Jahre später weltbekannt. Sie hieß im Krieg Sniper Alley. Serbische Heckenschützen lagen auf den Dächern der Hochhäuser auf der Südseite der Front. Oder sie zielten von den Hügeln, bei Tag und Nacht. Die breite Allee war wie freies Feld. Mehr als 600 Zivilisten wurden hier während der Belagerung getötet, mehr als 200 davon waren Kinder. "Musstest du aus dem Haus, dann musstest du laufen", erzählt Omanovic. Er antwortet sachlich, aber knapp. Die Erinnerung an den Krieg ist Teil dieser Stadt mit ihren unzähligen Friedhöfen, und doch passt das Thema nicht zur Stimmung der Rodel-Pioniere. "In Sarajevo kommen alle Ethnien miteinander aus", sagt Omanovic. Sein Thema ist gerade die Zukunft.

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(Foto: Volker Kreisl)

Wie eine bunte Korallenschlange liegt sie auf dem Berg Trebevic im Kiefernwald, die Olympia-Bahn der Winterspiele von Sarajevo 1984.

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(Foto: Dado Ruvic/Reuters)

Auf der Rodelbahn wird im Sommer wieder gerodelt. Medaillen werden hier allerdings wohl nie wieder verliehen.

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(Foto: Elvis Barukcic/AFP)

Das einzige, was an der maroden Skisprunganlage von Sarajevo noch an Olympia erinnert sind die fünf Ringe am Tisch der Schanze.

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(Foto: Dado Ruvic/Reuters)

Was hier wie ein altes Graffito missmutig von der bröckelnden Wand herüber schaut, ist "Vucko", das Maskottchen der Spiele von 1984.

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(Foto: Dado Ruvic/Reuters)

Auf der ehemaligen Eisschnelllauf-Bahn von Sarajevo holt sich die Natur Stück um Stück zurück, was man ihr für Olympia genommen hat.

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(Foto: Dado Ruvic/Reuters)

Der olympische Turm in Sarajevo, an dem die fünf Ringe und das Logo der Spiele prangen.

Zum Glück ist das Gelände weit und breit frei von Minen. Auf der langen Geraden zwischen den Kurven acht und neun kann man schon mal einen Schlitten in die Bahn setzen und starten. Im so genannten Labyrinth des unteren Abschnitts, einem schnellen Wechsel flacherer Kurven, können Schüler lernen, die Balance zu halten. Passt man nicht auf, dann wirft einen der Schlitten ab.

Auch der Rodelverband durchfährt gerade ein Labyrinth und muss die Balance halten. Neben dem Geldmangel und den Kriegsfolgen ist die örtliche Politik das dritte große Hindernis. Beim Thema Politik bekommt der kräftige Senad Omanovic mit den freundlichen Augen einen speziellen Blick - leicht verstört und unterdrückt zornig.

Nach dem Krieg hatte das Prinzip, alle Macht zu teilen, und zwar bis in die Verästelungen der Verwaltung hinein, erst den Frieden ermöglicht: Bosnier, Serben und Kroaten erhalten zu gleichen Teilen ein Mitbestimmungsrecht. Führende Positionen werden im Wechsel besetzt. Nur, behauptet Omanovic, gehe es dabei schon lange nicht mehr um einen gemeinsamen Nenner. Es gehe um die Posten mit ihren Vorteilen und darum, möglichst lange darauf sitzen zu bleiben. "Nehmen Sie die Hunde!", sagt Omanovic, "Sarajevo ist voller streunender Hunde. Das ist ein Problem, seit Jahren! Aber es passiert nichts!"

Das Projekt Rodeln soll ein Zeichen dafür sein, dass etwas passiert. Dass in Sarajevo etwas wächst. Der Verband wird immer größer, und Omanovic kennt viele weitere Sportler in Sarajevo. Weil er aber nie bereit gewesen sei, seinen Einfluss für den Wahlerfolg von Politikern einzusetzen, habe er nun Ärger mit der Führung des bosnischen Olympia-Komitees, berichtet er. Auf mysteriöse Weise ist sein Rodelverband nämlich gar nicht offiziell registriert. Er gilt als nicht existent. Vielmehr sind die Rodler bei der jüngsten Sportreform als Untersparte unter die Bobfahrer gerutscht. Gelder des Internationalen Olympischen Komitees können dem Rodelverband deshalb seit 2010 nicht zugewiesen werden, an niemanden kann man ja nichts zuweisen. "Ein Verwaltungsfehler, heißt es", sagt Senad Omanovic mit verstörtem Blick. Auf die Bitte, den Unsinn zu korrigieren, höre er immer: Gerne, aber Geduld! Man müsse erst die nächste Verwaltungsreform abwarten.

Kann hier je wieder ein Weltcup stattfinden? - "Kein Problem."

Die Rodler stellen zurzeit übrigens den einzigen bosnischen Wintersportler in einem Weltcup. Die Bobfahrer haben nicht mal einen Bob.

Gegen die Armut hilft Ideenreichtum, gegen die Zerstörungen des Krieges helfen sichtbare Fortschritte, gegen den Filz hilft Wegducken und Weitermachen. Omanovic' Projekt muss ohne politische Hilfe überzeugen. Dass am Trebevic jemand die Bahn ausbuddelt, habe sich in Windeseile herumgesprochen, denn die Bahn, sagt Omanovic, "ist den Menschen wichtig". Das sieht man ihr an, sie ist eine bunte Korallenschlange, die sich in einen Kiefernwald verirrt hat. Sie trägt Graffitis, die von den Träumen der Nachkriegsjugendlichen erzählen. Es ist alles dabei: Gekrakel von großen Kindern, die nur einen Abdruck hinterlassen wollen, und Kunstwerke, die wirklich etwas ausdrücken.

Vor den Sprayern gehörte die Rodelbahn noch den Soldaten, eine Zeit lang bildete sie sogar die Frontlinie. Dahinter verschanzten sich die Serben auf dem Rückzug, von unten rückten die bosnischen Einheiten vor. Die Belagerer bombten Löcher in den Beton und zielten und schossen hindurch. Alle paar Meter gibt es ein Loch, und in manchen Löchern sieht man eines der Rohre, die jede Kunsteisrinne durchziehen. Ein Loch in einer vom Krieg heimgesuchten Olympiabahn: Man sieht hindurch in den verschneiten Wald und denkt an die Vergangenheit und die Zukunft.

Denn die sieben bosnischen Bahnpioniere haben natürlich eine Vision. Sie übersteigt bisher noch das Vorstellungsvermögen des Präsidenten Fendt aus Berchtesgaden, der kürzlich zu Besuch war und im nächsten Juni wiederkommen will, und dessen Weltverband den Bosniern kürzlich 14 Sommerschlitten geschickt hat. Dass man in die Leitungen wieder ein Kältemittel einspeisen könnte, dass es dort irgendwann wieder Kunsteis gibt und vielleicht sogar ein Weltcuprennen, "das kann ich mir noch nicht vorstellen", sagt Fendt. Aber Besic, der Generalsekretär, der zugleich auch der Eisbauer und Bahnverantwortliche ist, sagt: "Kein Problem."

Für diese kühne Vision haben sie Argumente. Zwei davon befinden sich zwischen den Kurven vier und fünf sowie acht und neun. Die Bahn von Sarajevo hat eine Besonderheit, die wie ein Schatz ist. Man kann sie in drei Teile teilen, womit dreimal so viele Sportler zeitgleich trainieren könnten. Hinter den Kurven vier und acht sind jeweils Weichen eingebaut. Setzt man das Hydrauliksystem instand, dann lässt sich dort eine nebenan liegende Kurve an die Stelle einer Geraden schieben. Wie bei einer Holzeisenbahn. Und tatsächlich, Besic zeigt in den Wald: Dort führt ein Bremsweg nach oben. Schließt man ihn über die Weiche an, wird aus dem Drittel: eine komplette kleine Bahn.

Und damit fügen sich plötzlich die vielen Kleinvisionen, von denen Omanovic erzählt hatte, zu einem stimmigen Puzzle zusammen: Die Idee, Schritt für Schritt vorzugehen. Der Plan, die Schüler von Generalsekretär und Bahnchef Besic, der auch Judo-Trainer ist, fürs Rodeln zu begeistern, weil Judoka Kraft haben und ein Gefühl für Bewegung im Raum. Der Traum, nach der Eröffnung der Sommerrodelbahn im Zielraum einen Imbiss anzubieten, und später vielleicht ein Rodelcafé mit Spielplatz für die Wanderer aus der Stadt, in der wegen ihrer Hügel und der Winterkälte Rodeln eine lange Tradition hat. Dann die Seilbahn auf den Ausflugberg Trebevic, für die es bereits Entwürfe gibt (womit die Politiker dem frustrierten Omanovic beweisen würden, dass doch etwas aufwärts geht). Ein Fitnesshotel für Spitzenrodler, die hier viel günstiger trainieren könnten als in den Alpen, wo eine einzige Rennrodelfahrt bis zu 24 Euro kostet. Und schließlich: die Einspeisung eines Eismittels in die Leitungen.

Vielleicht, hoffen sie, wird das gar nicht so teuer. Im schlimmsten Fall, sagt Besic, müsse eben der Beton aufgebrochen und alles erneuert werden. Das könne 20 Millionen Euro kosten. Dann brauchen sie Investoren, andererseits kann man ja Schritt für Schritt vorgehen, denn die Bahn lässt sich ja in drei Teile teilen.

Klingt irre alles, und doch: Wenn man durch eines der Schießlöcher schaut und ein bisschen von dem Optimismus der bosnischen Sportler aufnimmt, kann man sie für einen Moment dahinter liegen sehen, die neue Rodelwelt von Sarajevo.

© SZ vom 24.12.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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