Olympia:Warum die Brasilianer buhen und pfeifen

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Wenn Rios Sportfans einheimische Athleten anfeuern, wird es wild. (Foto: dpa)

Sie kommen bei Olympia nicht ins Stadion, und wenn doch, dann verhalten sie sich unfair. Dieses Bild der Brasilianer geht um die Welt. Die Wahrheit ist komplizierter.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro, Rio de Janeiro

In Kooperation mit der Abfallentsorgungs- und Verwertungsgesellschaft Köln (AVG) wird in Rio eine moderne Kompostierungsanlage eröffnet. Rios Fußball-Erstligist Fluminense hat am 20. Spieltag gegen América aus Belo Horizonte 1:0 gewonnen. Am Mittwochmorgen schien die Sonne. Die Aktien des Ölkonzerns Petrobras sind seit Jahresbeginn kräftig gestiegen. Am Sonntag feiert der in Bremen und Wolfsburg gut bekannte Fußballer Diego sein Debüt im Trikot von Fluminenses Stadtrivalen Flamengo. Das sind, nur mal so zur Auflockerung, fünf tendenziell positive Nachrichten aus der Olympiastadt. So was gibt es tatsächlich noch.

Natürlich findet man, ohne lange zu suchen, auch fünf traurige Meldungen: Im Olympiapark stürzt eine an Seilen laufende Hängekamera ab und verletzt sieben Besucher. Bei der neuen U-Bahn-Linie kommt es zu großen Verspätungen. Das Geld für die Paralympics ist schon aufgebraucht, ehe sie begonnen haben; was das heißt für die Spiele der Behinderten, weiß niemand. Für Donnerstag ist schlechtes Wetter angekündigt. Im hügeligen Teil der Copacabana wird ein Mensch erschossen.

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Rio wird bis zum Ende dieser Spiele Rio bleiben. Ein unerhörtes Chaos, so liebenswürdig wie unmenschlich. Eine Stadt, die wie kaum eine andere ihre Widersprüche zur Schau stellt. Die Antwort auf die Frage, ob hier etwas gut oder schlecht läuft, hängt immer davon ab, wo man hinschaut. Meistens genügt es, den Kopf zu drehen.

Die Blicke des globalen Fernsehpublikums werden in diesen Tagen nicht ohne Spott auf grün gefärbte Schwimmbecken sowie leere Zuschauerränge gelenkt. Das grüne Wasser bleibt eines der Bilder dieser Spiele. Nach gegenwärtigem Stand der Ermittlungen hatte ein Reinigungstrupp in besten Desinfektions-Absichten größere Mengen von Wasserstoffperoxid in die Becken der Synchronschwimmer und Turmspringer gekippt. Dabei sind offenbar die chemischen Reinigungskräfte des Chlors zu Schaden gekommen, worüber sich wiederum die Algen freuten.

Das Wasser der Synchronschwimmer wurde komplett abgepumpt und durch 3,7 Millionen Liter der blauen Sorte ersetzt. Im Pool der Turmspringer wird weiterhin fleißig nach Algen gefiltert. Sofern es stimmt, was die Offiziellen sagen, und es keinerlei gesundheitliche Risiken für die Sportler gibt, bleibt das wohl eine besonders bunte Meldung.

Favoriten haben es schwer in Rio

Die oft halbleeren Ränge sind aus Sicht vieler internationaler Beobachter die größte Enttäuschung dieser Spiele. Selbst bei Medaillenentscheidungen der Leichtathletik oder beim Frauenfinale im Tennis kam man sich mitunter vor wie auf einem Provinzsportfest. Die Brasilianer, so wird daraus geschlossen, interessierten sich weniger für den olympischen Sportgeist als für die Helden ihrer Nation. Das mag stimmen, aber ist das spezifisch brasilianisch?

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Sehr brasilianisch und sicher gewöhnungsbedürftig ist das Verhalten der heimischen Zuschauer. Als der Stabhochspringer Thiago Braz am Montag Gold für Brasilien holte, wurde sein Kontrahent Renaud Lavillenie gnadenlos ausgebuht. Der Weltrekordhalter aus Frankreich war der Favorit in dieser Disziplin. Favoriten, die Brasilianern Medaillen wegschnappen wollen, haben es schwer in Rio. Das zieht sich schon durch die gesamte Veranstaltung. Auch beim Tennis, Tischtennis, Fechten und Turmspringen war das zu beobachten, wo es so etwas wie einen Fan-Knigge gibt.

Die Brasilianer pfeifen buchstäblich auf solche Etikette. Fast alle von ihnen haben im Fußballstadion gelernt, Fans zu sein. Dort gehört es zum guten Ton, dem eigenen Team zu helfen, indem man den Gegner niedermacht. Man nennt das Heimspielatmosphäre. Mit gewissem Recht kann man sich nun darüber aufregen, dass Teile des Publikums von Rio die Fußballstimmung ins Olympiaprogramm übertragen. Aber so ist das halt, wenn sich der Weltsport neue Welten erschließt.

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Die Geschichte um Lavillenie ist gewiss ein Sonderfall. Bei der Siegerehrung am Dienstagabend gab es erneut Pfiffe. Der weinende Stabhochspringer, auch das wird ein Bild dieser Spiele bleiben. Der Fall radikalisierte sich, nachdem der Franzose die Atmosphäre in Rio mit der bei den Nazi-Spielen 1936 in Berlin verglichen hatte. Eine dümmliche Bemerkung, für die er sich schnell wieder entschuldigte. Mindestens ebenso unangebracht waren die Pfiffe bei der Medaillenzeremonie. Zur ganzen Geschichte gehört aber auch, dass der Gold-Gewinner Thiago Braz das Publikum dazu animierte, Lavillenie zu beklatschen, und dass schließlich der Applaus überwog. In dem Moment, als dem Franzosen die Tränen kamen, wurde weder gepfiffen noch gebuht, es lief die brasilianische Hymne.

Was gibt es noch zu nörgeln? Die wackelnden Klodeckel im Athletendorf, die schlechte Beschilderung ganz allgemein, das spärliche Angebot in den Fressbuden der olympischen Premiumpartner, die angespannte Sicherheitslage in den düsteren Gegenden der Stadt, die langen Warteschlangen vor den Arenen wegen der Sicherheitskontrollen. Mal heißt es, in den Stadien sei keine Stimmung, dann wieder, die Fans seien im falschen Moment zu laut. Es stimmt schon: Rio macht wie immer vieles falsch. Aber man hat auch nicht wirklich den Eindruck, dass es die Chance bekäme, vieles richtig zu machen.

"Brasilien überrascht die Welt"

Allerdings, es ist alles eine Frage der Perspektive. Das führende Nachrichtenmagazin Veja liegt in dieser Woche mit einem Titelbild am Kiosk, das die Christusstatue von Rio mit einer Goldmedaille um den Hals zeigt. "Brasilien überrascht die Welt", lautet die Schlagzeile. Klar, Veja ist ein erzkonservatives Blatt, und seit die linksgerichtete Staatspräsidentin Dilma Rousseff von rechts kaltgestellt ist, haben dort plötzlich wieder die frohen Botschaften Konjunktur. Allerdings gibt das Titelbild eine schwer zu leugnende Stimmungslage wieder: Ganz so schlecht wie die Gringos gerade tun, sind wir nun auch wieder nicht.

Keine Frage: Tribünen sollten voll sein, Zuschauer fair und Wasser blau. Aber wenn das die Hauptkritikpunkte sind, kann es eigentlich nicht so übel laufen. So sehen das viele Brasilianer. Klodeckel, die nicht wackeln, kämen großen Teilen der Bevölkerung ohnehin verdächtig vor. Die weltweit angekündigte organisatorische Apokalypse ist aus Sicht der Gastgeber bislang jedenfalls nicht eingetreten.

Eine Big-Data-Analyse der Stiftung Getulio Vargas zeigt tatsächlich, dass die Olympiastadt in den sozialen Netzwerken weltweit deutlich besser wegkommt als vor den Spielen erwartet wurde. Am Morgen nach der größtenteils gelungenen Eröffnungsfeier überwogen demnach erstmals die positiven Kommentare. Auch von Seiten der Athleten gibt es deutlich mehr Lob als allgemein rüberkommt.

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Auch aus Deutschland übrigens, wo gerade mit wilhelminischer Pickelmützenhaftigkeit ein Diskus-Olympiasieger gerüffelt wurde, weil er bei der Hymne zappelte, mehren sich die euphorischen Beiträge über das unvollkommene Rio. Der Hockeyspieler Moritz Fürste spricht vom "besten neuen Platz", auf dem er jemals gespielt habe. Der Segler Erik Heil bejubelt ein Segelrevier, das große Teile der Welt nur als die Kloake am Zuckerhut kennen. Der Golfer Martin Kaymer fand die Atmosphäre so gut wie beim Ryder-Cup. Die Dressurreiter-Equipe um Isabell Werth hält die Olympiaanlage für besser als die in Aachen. Darüber berichtet kaum jemand. Rio geht es da ein bisschen wie der Deutschen Bahn: Was klappt, interessiert keinen.

Um die etwas angekratzten brasilianischen Befindlichkeiten zu verstehen, muss man sich vielleicht noch einmal an jenen Tag im Juni erinnern, als die Weltgesundheitsorganisation WHO ernsthaft darüber entscheiden sollte, ob die Spiele abgesagt werden müssen. Wegen Zika. Allen vernunftgesteuerten Einwänden zum Trotz - die Stechmücke Aedes aegypti hält um diese Jahreszeit in Brasilien Winterruhe, während sie etwa in Florida ihr Unwesen treibt - sagte die halbe Golfer-Elite ihre Teilnahme ab. Tapfere männliche Athleten, die dennoch nach Brasilien reisten, froren zur Sicherheit ihre Spermien ein. Die US-Torhüterin Hope Solo verbreitete ein Selbstportrait mit Moskito-Maske. Es gibt ein paar gute Gründe, sich derzeit vor Rio zu fürchten. Zika gehört nicht dazu. Die WHO teilt mit: Bislang wurde keine einzige Neuansteckung während der Spiele registriert.

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Was ihre Fähigkeit zur Selbstironie angeht, liegen die Brasilianer fast auf einer Stufe mit den Briten. Ärger gibt es, wenn sich andere über sie lustig machen. Das hat Hope Solo bei jedem Abschlag zu spüren bekommen. "Ooooohh, Zikaaa!", schallte es da durch die Stadien. Aktueller Großaufreger in Brasilien ist eine Polemik aus der New York Times, in der Rios berühmte Keksspeise "Biscoito Globo" als langweilig und geschmacklos bezeichnet wird.

Es heißt, die Gastgeber würden mit ihrem Jahrhundertfest fremdeln, aber das stimmt nur auf den ersten Blick. Viele Ränge sind auch deshalb verwaist, weil olympische Großsponsoren Ticketkontingente geblockt haben, sie aber nicht nutzen. Der Verkauf der Eintrittskarten sagt ohnehin wenig über die tatsächliche Anteilnahme aus. Für die Leichtathletik-Veranstaltung am Freitagabend gibt es noch Resttickets ab 100 Euro. Die billigsten freien Sitzplätze für das Finale im Frauenfußball kosten 60 Euro, die für den Modernen Fünfkampf 45 Euro. Muss sich da einer wundern, dass nicht die Massen zur Abendkassen strömen, in einem Land, in dem der monatlichen Mindestlohn bei rund 250 Euro liegt? In Rio wurden Mitarbeiter im öffentlichen Dienst zuletzt monatelang gar nicht bezahlt, Rentner warteten ein Vierteljahr auf ihre Pensionen. In der schwersten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten haben die meisten Brasilianer andere Sorgen als ihr letztes Geld auszugeben, um Sportler zu sehen, die sie größtenteils nicht kennen.

Weltweites Fernsehpublikum: Brasilien guckt zu viel Fernsehen

Viele wollen trotzdem irgendwie an Olympia teilnehmen. Sie machen das, was sie sich leisten können. Vor den Gästehäusern der Nationen bilden sich absurd lange Schlagen, vor allem dort, wo kein Eintritt verlangt wird. Im Legoland der Dänen zum Beispiel oder am Gratis-Espressostand der Kolumbianer. Wer behauptet, in den Straßen herrsche keine Olympiastimmung, kann noch nie an der neuen Hafenpromenade rund um die Praça Mauá gewesen sein. Jeden Abend, jede Nacht tanzt dort das sogenannte einfache Volk zu hochkarätigen Konzerten wie dem der Sambakönigin Elza Soares. Die ehemalige Putzfrau wuchs genau wie Rafaela Silva, Brasiliens erste Gold-Gewinnerin dieser Spiele, in einer der rund 1000 Favelas von Rio auf. Soares ließ bei ihrem Auftritt die dunkelhäutige und lesbische Judoka mehrmals hochleben. Es war bewegender als jedes noch so dramatische Tennismatch.

Bei all der Kritik an den Auslastungszahlen der Stadien wird auch übersehen, dass Brasilien ein Fernsehland ist. Selbst bei Rios Fußballderby Flamengo gegen Fluminense bleiben stets Sitze frei, weil das ganze Land vor den Bildschirmen sitzt. Die Olympischen Spiele werden von 13 brasilianischen Sendern praktisch rund um die Uhr übertragen, darunter zwei evangelikale Kirchenkanäle sowie natürlich TV Globo, das größte Netzwerk Lateinamerikas. Die meisten Brasilianer verfolgen ihr Sportfest auf ihre Weise. Im Grunde ist es eine hübsche Pointe, dass ihnen nun ein weltweites Fernsehpublikum vorhält, sie würden zu viel Fernsehen gucken.

© SZ vom 18.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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