Tokio 2021:Olympisches Zittern

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Trügerische Idylle: Rund um die olympischen Ringe vor der Regenbogenbrücke in Tokio sollen vom 23. Juli bis 8. August 2021 die Sommerspiele stattfinden - ob es so kommt, ist ungewiss. (Foto: Charly Triballeau/AFP)

Leere Tribünen, die Gefahr von gleich zwei Spiele-Absagen und Sorge um den Nachwuchs: Ein Streifzug durch eine tief verunsicherte Olympia-Landschaft.

Von Thomas Hahn, Thomas Kistner und Johannes Knuth

Ein Licht am Ende des Tunnels. Ein Leuchtfeuer der Hoffnung, um das sich die Welt versammeln werde. So klang das noch vor ein paar Wochen, wenn sie im Internationalen Olympischen Komitee (IOC) über ihre Sommerspiele sprachen, die sie wegen der Corona-Pandemie gerade von diesem in den nächsten Hochsommer verlegt hatten. Und jetzt? Sind die Töne im Olymp auf einmal von einem ernsten Bass unterlegt: Man stecke in "echten Problemen", gab John Coates, der mächtige IOC-Vizepräsident und Chefinspektor für die Tokio-Spiele, unlängst zu. Er sprach von 100 000 Sportlern, Helfern, Offiziellen und Reportern aus aller Welt, die man in Tokio versammeln müsse, ohne wohl über einen Impfstoff zu verfügen - Zuschauer waren da noch nicht mal eingerechnet. Wenn die Pandemie bis zu diesem Oktober halbwegs gezähmt werde, sei Olympia für 2021 jedenfalls machbar, sagte Coates - wenn nicht, so die unfrohe Botschaft, dann nicht. Eine Erzählung in drei Kapiteln über eine neue Kerndisziplin, die den Sport in den nächsten Monaten beschäftigen wird: olympisches Zittern.

Ins Ungefähre hinein

Der Kasai-Rinkai-Park liegt nur 15 S-Bahn-Minuten vom Tokioter Hauptbahnhof entfernt im Sonderbezirk Edogawa. Er ist eine Idylle am Meer mit Aquarium, Grillwiese und Riesenrad, eine der größten Grünanlagen Tokios und ein Schauplatz der verlegten Sommerspiele. Im Ostteil ist die Kanuslalom-Anlage entstanden, die man in Tokio wohl nie gebaut hätte, wenn Japans rechtskonservative Regierung nicht dringend ein Olympia-Gastgeber hätte sein wollen. Hinter Pinien und Schutzwänden ragen Stahlrohrtribünen auf. Von einer Anhöhe aus kann man das Becken der ersten künstlichen Wildwasserstrecke Japans sehen. Was wird dort passieren, bis im nächsten Jahr mit einjähriger Verspätung vielleicht um Medaillen gepaddelt wird?

Man weiß es noch nicht. So wie man insgesamt noch sehr wenig weiß darüber, wie die Verlegung funktionieren soll. Das zumindest ist die Botschaft, die Toshiro Muto ausstrahlt, der Geschäftsführer des Tokioter Organisationskomitees. Er sitzt bei einer Online-Pressekonferenz, hat aber wenig zu berichten. Zwei Monate sind vergangen, seit die Spiele verlegt wurden. Muto hat recht, man kann darüber streiten, ob das viel oder wenig Zeit ist in Anbetracht der Aufgabe, ein Ereignis mit 43 Sportstätten von einem Sommer in den nächsten zu wuchten. Andererseits kann jeder Tokios provisorische Tribünen sehen. Dafür gibt es noch keinen Plan? Manche Anlagen würden entfernt und nach einem neuen Bauplan wiederaufgebaut, sagt Muto ins Ungefähre hinein, ansonsten: "Es gibt kein allgemeines Statement."

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Mit den Unsicherheiten der Pandemie haben die zögerlichen Ansagen angeblich nichts zu tun. Lähmt die Angst vor einer späten, corona-bedingten Absage? Solche Gedanken darf Muto nicht zulassen. Zumal eine Absage laut Prognosen noch teurer käme als die Verlegung. Also versucht Muto, anderslautende Meinungen aus dem IOC einzufangen. "Unvorbereitet" habe ihn kürzlich der Umstand getroffen, dass IOC-Präsident Thomas Bachs eine weitere Verlegung mit der Absage gleichsetzte. Und nachdem dessen Adlatus John Coates den Eindruck erweckt hatte, dass im Oktober die Entscheidung über Weitermachen oder Nicht-Weitermachen falle, fragte Muto bei diesem noch mal nach. "Er meinte, er habe nie über die Möglichkeit gesprochen, die Spiele nicht zu haben", berichtet Muto. Immerhin: "Mit Blick auf die Spiele sind wir uns alle einig, dass wir neben Maßnahmen gegen die Hitze auch Coronavirus-Maßnahmen brauchen."

Aber mancher Virologe glaubt nicht daran, dass die weltweite Corona-Lage 2021 ein Ereignis mit Teilnehmern aus mehr als 200 Ländern erlaubt. Und Japans Premierminister Shinzo Abe besteht darauf, dass der Sommer 2021 der spätestmögliche Termin ist. Eine Absage ist demnach nicht das unwahrscheinlichste Szenario. Trotz der fertigen Tribünen.

Das Ende des Weges

Noch so eine weltweit beachtete Abreibung soll es nicht geben für Thomas Bach. Oft genug wurde der IOC-Präsident als Prügelknabe vorgeführt; erst zuletzt wegen seiner Krisenpolitik im Frühjahr. Damals zögerte er mit Japans Premier Abe und der Weltgesundheitsorganisation die Verschiebung der Tokio-Spiele so lange hinaus, bis Teile der Welt im Lockdown verschwunden waren. Bei einem olympischen Qualiturnier im März hatten sich zudem mehrere Boxer und Betreuer in London, einem Corona-Hotspot, offenbar infiziert. Und die Athleten rebellierten.

Nun will das IOC schon im Oktober Klarheit schaffen. Eine Verschiebung der Spiele Richtung Herbst 2021 schließt auch der Kanadier Richard Pound im Gespräch mit der SZ aus. Zwar bestreiten die Organisatoren in Tokio, dass Abe und Bach über eine Absage überhaupt gesprochen hätten. Aber nicht nur Pound, 78, der Doyen des IOC, vermutet, dass da vor allem "kulturelle Eigenheiten" im Spiel seien: "Es scheint eine gewisse nationale Abneigung zu geben, das absolute Ende der Flexibilität zu erklären." Diese aber steht aus Pounds Sicht fest: "Soweit ich weiß, akzeptiert jeder, dass, wenn die Spiele 2021 nicht möglich sind, dies das Ende des Weges ist." Die Japaner hätten das sogar selbst so verfügt: "Erst schlugen sie eine Verschiebung um bis zu einem Jahr vor, das IOC stimmte zu. Dann schlugen sie die neuen Termine vor, und das IOC stimmte zu."

Pound zeigt nun auch ein Kernproblem auf, das bisher unbeachtet blieb, den Ringe-Clan aber intensiv beschäftigt: "Konservativ besehen", sagt er, "muss das IOC damit rechnen, dass weder die Spiele in Tokio noch die Winterspiele 2022 in Peking stattfinden können." Tatsächlich liegt zwischen den beiden Mega-Events bloß ein halbes Jahr - und das ist just der Herbst und Winter, in denen die Virenbedrohung in den meisten klassischen Winternationen wächst. Wie soll in China ein Schneespektakel gelingen, wenn Monate zuvor der Sommer in Japan entfallen musste?

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Das birgt eine bisher unvorstellbare Herausforderung für das IOC: Das Geld könnte knapp werden. So erklärt Pound auch den Umstand, dass der Olymp zwar jüngst Überbrückungshilfen für die wegen des Ausfalls 2020 darbenden Sommersportverbände von rund 150 Millionen Dollar auslobte - ohne dies zu substanziieren: Wie viel Geld, Sachleistungen und sonstige Hilfen werden gereicht? Wann und an wen? Das IOC, so Pound, sehe eben schon die Gefahr einer Absage in China. Deshalb müsse es "sicher gehen, dass es bei einem solchen unglücklichen Doppelmissgeschick finanziell überleben könnte".

Die Crux ist: Spiele vor Geisterkulissen sind genauso wenig erstrebenswert. Das IOC lebt von den Bildern eines dreiwöchigen Olympiafests, zumal Tokio ohnehin als Corona-Event gebrandmarkt ist. Eine Doppel-Absage wäre ein Desaster, das den alimentierten Spitzensport weit zurückwirft, bis zum nächsten Termin 2024 in Paris. Sponsoren hätten nichts zu sponsern, Sender nichts zu senden. Große Karrieren würden verpuffen, neue nicht erblühen. So besehen, muss Tokio stattfinden. Um jeden Preis.

Hummeln im Hintern

Der Säbelfechter Maximilian Hartung stand bis zuletzt oft in der Trainingshalle seines Vereins TSV Bayer Dormagen - wo er immerhin allein trainieren konnte, im Gegensatz zu vielen Nachwuchsathleten - und grübelte. "Ich merke an mir selbst, wie jede Meldung über neue Ungewissheiten weh tut", sagt der 30-Jährige, "es ist sehr zermürbend, währenddessen im Training ständig an die eigene Grenze zu gehen." Das Szenario eines olympischen Totalausfalls lässt auch einen viermaligen Europameister, Mannschaftsweltmeister, zweimaligen Olympiafahrer und Sprecher der unabhängigen deutschen Athletenkommission nicht kalt.

"Sehr bedrohlich" findet Hartung das alles. Olympiasportler sind immer auch große Idealisten, sie opfern viele Lebensjahre und finanzielle Sicherheiten, um eine Leidenschaft zu festigen und dann - alle vier Jahre, wenn überhaupt - auf der olympischen Bühne eine Chance auf ein paar Minuten Ruhm zu erhaschen. Heroes just for one day, sang David Bowie einst. "Die biografischen Risiken für junge Leistungssportler", nennt Hartung das, und weiß: "Die sind ohnehin groß." Und jetzt, da Tokio und Peking wackeln und dann erst Paris 2024 das nächste Ziel wäre, befürchtet er, dass sich vor allem die jüngeren Athleten erst recht gegen das Wagnis Spitzensport entscheiden könnten - und stattdessen für ein Studium oder den Beruf. Schon jetzt sind viele kontinentale und interkontinentale Meisterschaften nach hinten verschoben worden; im Fechten, sagt Hartung, sei allein der Pfad in die Nationalmannschaft bereits jetzt ein längerer. Und Geduld, weiß Hartung, hat man mit Anfang 20 eher weniger: "Da hat man Hummeln unter dem Hintern." Wenn es richtig blöd laufe, könnte bald das Gros der künftigen Spitzensportgeneration wegbrechen - einige Tausend deutsche Nachwuchssportler, unter ihnen die nächsten großen Idealisten, die nächsten Heroes for one day.

Und wenn es mit Tokio 2021 nun doch klappt, vielleicht sogar ohne Zuschauer? "Das ist nicht das", sagt Hartung, "wofür ich die letzten vier Jahre geackert habe." Aber es würden derzeit ja überall Kompromisse geschlossen: "So lange offen und fair mit uns kommuniziert wird, sind auch wir Athleten zu Kompromissen bereit." Mit dem Kommunizieren ist das nur noch immer so eine Sache: Das IOC teile mittlerweile zwar mehr Informationen, sagt Hartung, diese seien aber oft "oberflächlich". Die entscheidenden Fakten vermisse er (noch): Welche Szenarien gibt es konkret, von der Ausrichtung bis zur möglichen Quarantäne im Athletendorf? Wenn die Unsicherheit schon so groß ist, wünsche man zumindest eines, sagt Hartung: "Dass es da einen echten Konsultationsprozess mit den Athleten gibt."

© SZ vom 30.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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