Am Ende riss Barbara Engleder trotzdem die Arme in die Luft. Aber es war keine Triumphgeste für die Welt draußen, es war ein Ausdruck für sich selbst, eine Mischung aus Trotz und der Erleichterung, dass die Anspannung vorbei war. Sie ließ dabei den Kopf hängen, rang sich ein Lächeln ab, als sie ihren Schießposten verlassen musste. Engleder hält auch widersprüchliche Gefühle nicht zurück, sie redet so, wie sie sich gerade fühlt. So beschrieb sie später ihre Freude über einen insgesamt gelungenen Tag, aber als wieder der Groll über diesen letzten Schuss in ihr aufbrandete sagte sie eben auch Sätze wie diesen: "Ist der Wettkampf noch so klein, einer muss das Arschloch sein."
Diese Wettkampf-Form heißt auf Kinder-Geburtstagsparties "Reise nach Jerusalem", wo man allerdings statt eines 0,5 millimeterbreiten Scheibenzentrums nur irgendeinen Stuhl erwischen muss. Die jeweils Letzte von acht Luftgewehr-Finalistinnen packt neuerdings nach jeder Runde ihre Sachen. Engleder hatte mit diesem letzten Platz nie etwas zu tun, sie hatte immer rechtzeitig einen Stuhl erwischt, bis zum Schluss, zu dem Zeitpunkt, in dem es um Bronze ging. Da verrutschte ihr ein Schuss, den sie nicht mehr korrigieren konnte, sie fiel von zwei auf vier, hatte die sogenannte Holzmedaille und musste vorzeitig abtreten.
Engleder hat noch eine zweite Chance - mit ihrer Lieblingswaffe
Platz vier im Luftgewehr, das ist das Beste, was der Deutsche Schützenbund seit vielen Olympischen Spielen an diesem ersten Wettkampfvormittag hervorbrachte. Aber das Beste ist in diesem Fall eben auch das Traurigste. Engleder sagte in einem Moment der Versöhnung mit sich: "Es war ein starker Wettkampf", und gab dann gleich wieder zu: "Die große Traurigkeit wird noch kommen."
Olympia:Frühes Aus für Ana Ivanovic
Bastian Schweinsteigers Frau scheitert ebenso wie eine favorisierte Deutsche. Ein deutscher Turner verletzt sich schwer. Die deutschen Ruderer erleben einen durchwachsenen Auftakt.
Die deutsche Sportöffentlichkeit blickt auf diesen ersten wichtigen Finalkampf im Olympiaprogramm, und Vertreter der deutschen Sportmedien pilgern seit eh und je in den hintersten Winkel der Spiele zu den Schützen, um bei der ersten Medaille dabei zu sein. Seit Jahrzehnten hat sich der Weg aus dieser Sicht nicht gelohnt, und bei schnellem Hinschauen auch diesmal nicht.
Engleder ist gerade bei ihren vierten Olympischen Spielen und sie weiß, dass sie noch nie derart nah an einer Medaille dran war, aber dass dieses in den Rückbetrachtungen keinen Menschen interessieren wird, genauso wenig wie der Umstand, dass dieser Luftgewehrwettkampf grandios spannend und äußerst knapp war, dass die spätere Silbergewinnerin Li Du aus China fast in Runde vier rausgeflogen wäre, und dass Engleder 0,6 Millimeter zu Bronze gefehlt hätten, nur 0,6 Millimeter, aber das veredelt eben auch kein Holz.
"Ich hatte die Medaille schon fast in der Hand, aber ich habe mich vielleicht zu früh gefreut", sagte Engleder. Von einem komfortablen Vorsprung konnte in dieser Wettkampfphase keine Rede mehr sein, die Namen der Führenden wechselten oben auf dem Tableau nach jeder Schussrunde die Plätze, als würden sie von einer unsichtbaren Hand gemischt wie Spielkarten.
Allein der Name Virginia Thrasher, der späteren Goldgewinnerin aus den USA, hatte sich nach Hälfte des Wettkampfes ganz oben festgeheftet. Thrasher schoss bis auf ein Mal zuverlässig, Engleder misslangen auch nur drei von 18 Schuss, und als sie ihren dritten Lapsus korrigieren musste, kam nur eine 10,2 heraus. Ein Großteil ihrer Kugeln war zwar in der Zehn gelandet, aber es war nicht genug. Li Du musste noch schießen, sie musste gegen Engleder aufholen, und sie zeigte keine Nerven: 10,8 - das ist eine Art Traumnote, denn bei 10,9 ist Schluss. "So eine Matz", sagte Engleder mit einem Augenzwinkern über die Chinesin.
In einem Moment innerer Gefasstheit blickte die Niederbayerin dann wieder aufs große Ganze. Eine Medaille war es nicht, aber es war ja dennoch ein gelungener Start für die Deutschen. Die Schützen sind nach ja Rio de Janeiro aufgebrochen, um London vergessen zu machen, wo sie gar keinen Podestplatz geschafft hatten.
Claus-Dieter Roth, der Bundestrainer Gewehr, hatte vorab gesagt, "der erste Wettkampf ist immer ein Schlüsseltag", und dass diesmal eine Medaille zumindest vorübergehend in der Hand einer Athletin lag, ist immer noch erfreulicher für die Kollegen als ein klares, chancenloses Ausscheiden wie bei den Spielen zuvor, als die Gold-Favoritin Sonja Pfeilschifter auf olympischem Schießboden von ihren Fähigkeiten abrupt verlassen wurde.
Das kann man diesmal nicht sagen. Barbara Engleder, 33, aus Eggenfelden in Bayern, hat hier ja noch eine zweite Chance, das Luftgewehr ist nicht ihre Lieblingswaffe, sie hat damit trotzdem nun ihren besten Platz bei Olympischen Spielen erreicht. Und bevor die große Traurigkeit am Nachmittag oder am Abend kommen würde, erinnerte sie in einem Anflug von Optimismus noch einmal daran, dass ihr dieser vierte Platz Mut für ihre Lieblingsdisziplin gebe, für den Dreistellungskampf mit dem Klein-Kaliber-Gewehr am kommenden Donnerstag.