Rudern bei Olympia:Plötzlich bleibt das Boot fast stehen

Olympia in Tokio 2021: Der Frauen-Doppelvierer im Finale

Daniela Schultze (links) fängt einen Krebs, wie es im Rudern heißt. Ihr entgleitet beinahe das Ruder.

(Foto: Jan Woitas/dpa)

Der Doppelvierer der Frauen erlebt das schlimmste Szenario unter Ruderern: 250 Meter vor dem Ziel bremst ein technischer Fehler das Boot aus - und die Silbermedaille ist futsch.

Von Saskia Aleythe, Tokio

Das Ziel muss man beim Rudern im Gefühl haben. Mal kurz umdrehen und nachschauen, wie weit der Weg bis zur Ziellinie noch ist, geht schließlich nicht. Das Gefühl der deutschen Ruderinnen war gut am Mittwochmittag in Tokio, sie mussten nur noch weitermachen wie bisher in diesem Finale: Ein paar Züge noch, immer im Takt, dann würden sie sich hier für die Arbeit belohnen können, die hinter ihnen liegt.

Fünf Jahre Arbeit, im Glück und Leiden bei diesen Olympischen Spielen steckt ja auch immer der Fakt, dass noch ein bisschen mehr Aufwand hinter den Gefühlen verborgen ist als zu normalen Zeiten. Ein Jahr mehr Training, ein Jahr länger Ausharren, ein Jahr zusätzliches Hoffen, im großen Moment nicht durch einen flüchtigen Fehler alles kaputt zu machen. 250 Meter vor der Ziellinie in Tokio lag der deutsche Doppelvierer souverän auf dem Silberrang. Einfach weitermachen wie bisher, war die Aufgabe, doch es ist dann auch so, wie es Franziska Kampmann beschreibt: "Im Kopf spielt sich ja schon was ganz anderes ab." Siegerehrung, Hymne, Belohnung für die vergangenen Jahre.

Diese Silbermedaille hatten sie schon fast riechen können, sie hing wie eine Möhre vor ihnen, doch dann passierte, was die Ruderer am meisten fürchten: Dass sich ein Ruder im Wasser verfängt und die ganze Truppe ausbremst. Daniela Schultze, die Erfahrenste im Boot, erlebte nun ausgerechnet bei den Olympischen Spielen diesen Moment, so wenige Meter vor dem Ziel. "Wir haben einen Krebs gefangen im Endspurt und damit war es dann erledigt", sagte Frieda Hämmerling später und gab sich tapfer, aber die Tränen flossen von allein. Einen Krebs fangen, so nennen es die Ruderer, wenn das Ende des Ruders schief im Wasser steht und das Boot plötzlich ausbremst. Eine falsche Handbewegung reicht dafür aus, auch Wellen können dafür sorgen, dass das Ruder nicht mehr sauber aus dem Wasser gleiten kann. Bei Schultze verfing sich der Rudergriff auch noch in ihrem Trikot. "Manchmal bleibt man nur ein bisschen hängen und kann direkt weiterrudern, manchmal zieht man einen so dollen Krebs, dass sogar das Skull bricht", sagte Hämmerling, "das war jetzt so ein Mittelding".

Und dann fließen nur noch Tränen

So ein Mittelding, das sie die Medaille kostete. Die Chinesinnen schnappten sich mit großem Vorsprung den Olympiasieg, sie waren ohnehin als Favoritinnen ins Rennen gegangen. Das Finale war wegen der Windbedingungen von Dienstag auf Mittwoch verschoben worden, doch stürmisch war es dann immer noch. "Eigentlich sind das Bedingungen, mit denen wir trotzdem ganz gut klarkommen", sagte Hämmerling, "wir sind auch schon Rennen mit diesen Bedingungen gefahren, die gut waren. Es kann immer mal schiefgehen und ein bisschen Pech dabei sein. Das war heute der Fall."

Schiebewind nennen es die Athleten, wenn sie in Fahrtrichtung angetrieben werden, "da muss man aufpassen, dass man sofort mitgeht", sagte Kampmann, 24, sie hatten sich dafür die passende Strategie überlegt: Gleich von Anfang an mit dabei sein unter den Medaillenanwärterinnen, weil man bei den Windverhältnissen am Ende weniger aufholen kann. "Deswegen sind wir auch so offensiv losgefahren", erklärte Kampmann. Das ganze Rennen über hatten sie bei den Zwischenzeiten auf dem zweiten Rang gelegen, führten bei der 1500-Meter-Marke noch mit mehr als zwei Sekunden vor den Polinnen. "Es war ein super Rennen, das beste der Saison", sagte Hämmerling, "und dann ..." - flossen nur noch Tränen. Platz fünf stand auf der Anzeigetafel, Australien hatte sich noch Bronze gesichert.

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Am Anlegesteg konnten sie ihr Unglück gar nicht richtig begreifen. Carlotta Nwajide blieb minutenlang ohne Regung sitzen; Daniela Schultze, der der Fehler unterlaufen war, kauerte weinend auf dem Anlegesteg. Reden mochte sie an diesem Mittag nicht mehr, womöglich konnte sie es auch nicht. "Wenn man in so einer Situation ist, macht man sich ewig Vorwürfe", sagte Kampmann, "es hätte jeder von uns passieren können." Rudern ist nicht nur ein Sport, in dem Kraft und Technik über die Medaillen entscheiden, sondern vor allem der Rhythmus der Athleten. Sie müssen im gleichen Takt schlagen, der Weg zur Perfektion als Team ist lang. Das deutsche Quartett war als Favorit auf eine Medaille nach Tokio gereist, bei der Europameisterschaft vor ein paar Monaten gewann es Silber. Und überhaupt: Seit 1988 werden beim Doppelvierer (ohne Steuerfrau) olympische Medaillen vergeben, noch nie waren die Deutschen dabei leer ausgegangen.

Viel Geschichte also, die in diesem Sport steckt. Und die von dem Krebsfang auf den letzten Metern gehört nun auch dazu. "Ich glaube, wir verkriechen uns erst mal in unserem Zimmer und denken über das Geschehene nach", sagte Kampmann, für sie geht es vermutlich mit dem Rudern nicht noch mal zu Olympischen Spielen, es gäbe noch mehr im Leben. Und auch Hämmerling, 24, kämpfte mit sich, jetzt schon in die Zukunft zu blicken. Motiviert sei sie schon, noch weiterzumachen, aber gleichzeitig "bremst einen das so ein bisschen in den Emotionen, weil man auch sieht, wie schnell alles vorbei sein kann, wenn der Medaillentraum beendet ist". Immerhin: Die Olympischen Spiele in Paris sind schon in drei Jahren, ein Jahr weniger Entbehrungen.

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