Süddeutsche Zeitung

Reitsport:Härtetest auf der einstigen Müllkippe

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Mit seiner überragenden Dressur führt Michael Jung die deutschen Reiter auf einen aussichtsreichen Zwischenrang. Am Sonntag geht es nun ins Gelände - und der Parcours hat es in sich.

Von Gabriele Pochhammer, Tokio

Erst wurde gesungen, dann gefragt. Unter Missachtung aller Pandemie-Vorschriften ertönte in der Mixed Zone, dort, wo sich Journalisten und Athleten treffen, mehr laut als schön, Happy Birthday für das Geburtstagskind. Michael Jung wurde am Samstag 39 Jahre alt und mit seinem glänzenden Ritt im Dressurviereck auf dem 13-jährigen Chipmunk legte er den Grundstein für seinen dritten Olympiasieg in Serie. Mit dem inzwischen pensionierten Sam triumphierte er in London 2012 und Rio 2016, fürs Team gab's Gold und Silber. Mit seiner überragenden Dressur brachte Jung das deutsche Team auf einen aussichtsreichen zweiten Zwischenrang hinter den Briten, mit nur zwei Punkten Abstand. So kann es weiter gehen, auch Bundestrainer Hans Melzer, am Vortag noch mit tiefen Sorgenfalten im Gesicht, konnte wieder lachen.

Da hatte es nämlich noch düster ausgesehen. Die erste deutsche Reiterin, Julia Krajewski, landete mit Amande de B'Neville mit einem guten, soliden Ritt zunächst auf Platz drei (jetzt vier), aber bei Sandra Auffarth, Olympiadritte 2012 und beteiligt an Gold und Silber 2012 und 2016, auf Viamant de Matz hakte es mehrfach. Sie liegt jetzt auf Zwischenrang 37. Ein Streichergebnis gibt es nicht mehr, jede Reitermannschaft hat in Tokio nur noch drei statt vier Starter.

Jung war natürlich "happy" über sein Pferd, das alle Kringel so brav in den Sand gemalt hatte. Das sah bei Chipmunk wirklich wie Dressur aus und nicht wie eine lästige Pflicht, der man als Buschpferd möglichst schnell zu entkommen sucht. Auch solche Bilder gab es.

Die Verschiebung der Olympischen Spiele aufgrund der Pandemie habe ihm zugearbeitet, sagte Jung. Er übernahm den Hannoveraner Wallach Ende 2018 von Julia Krajewski, die ihn ausgebildet und schon in schweren Prüfungen vorgestellt hatte, eine besondere Leistung der Nachwuchsbundestrainerin aus Warendorf: Zwei von drei Buschpferden in Tokio entstammen ihrer Schule.

Jung geht optimistisch in den kniffligen Hindernis-Parcours

Aber auch ein gut ausgebildetes Pferd muss sich erst an einen neuen Reiter und sein neues Zuhause gewöhnen. "So was braucht doch seine Zeit, so hatten wir ein Jahr mehr, um wirklich zusammenzuwachsen", sagt Michael Jung, der am Montagabend nach dem Abschlussspringen einen olympischen Rekord aufstellen kann. Er wäre der erste Vielseitigkeitsreiter überhaupt, der drei Goldmedaillen im Einzel geholt hätte - und das sogar nacheinander. Aber Jung weiß, dass das Schwerste noch vor ihm und seinen Mitstreitern liegt und am Sonntagabend, nach dem Härtetest im Gelände, wahrscheinlich kein Mensch mehr über die Dressur redet.

Samstagnachmittag wurden die Pferde per LKW in die provisorischen Ställe zum Cross gebracht, wo es Sonntag früh um 7.45 Uhr (0.45 MESZ) losgeht, um der schlimmsten Hitze auszuweichen. Auf der Insel Sea Forest vor dem Hafen Tokios führt die Strecke über 4420 Meter durch hügeliges Gelände, immer bergauf und bergab mit vielen Wendungen. Weil auf der ehemaligen Müllkippe nicht tiefer als 40 Zentimeter gebuddelt werden durfte, mussten alle Hindernisse oben auf dem Rasen aufgebaut werden. Parcourschef Derek di Grazia rechnet mit höchstens drei oder vier Reitern, die in der vorgeschriebenen Zeit von 7:45 Minuten bleiben, Michael Jung will dazu gehören. "Wir müssen kämpfen, als ob wir nicht vorn, sondern im Mittelfeld liegen", sagt er.

Die 23 Hindernisse hält er alle für machbar. "Solche Aufgaben haben wir schon gesprungen, zu Hause und auch im Wettkampf, das ist für uns nichts Neues." Die Deutschen gehen als 14. von 15 Mannschaften in die Prüfung. Das hat Vor- und Nachteile: "Wir können uns ein paar Reiter vorher ansehen, da sieht man schon, wie sich die einzelnen Hindernisse reiten lassen und ob die Zeit wirklich so knapp ist", sagt Melzer.

Andererseits ist Michael Jung als vorletzter der 63 Starter erst um 11:48 Uhr dran, da wird es unter Umständen schon recht heiß sein. Nichts davon kann den in Bad Horb in Baden-Württemberg beheimateten Jung schrecken: "Meist ist es ja doch bewölkt und es weht da draußen eine kleine Brise. Außerdem war es bei uns im Sommer auch heiß und Berge kennt mein Pferd sowieso." Es hilft ja doch, wenn man wie Jung nach den Worten des Bundestrainers "einfach eine coole Socke" ist.

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