Süddeutsche Zeitung

Olympia-Qualifikation:Schwimmen im Trüben

Sie starten ohne Zuschauer und manchmal ganz allein: In Berlin erfüllen weitere Athleten die Einzel-Normen für Tokio. Wer dort ihr Leistungssportdirektor sein wird, ist weiter ungewiss.

Von Saskia Aleythe, München

Zwischen den Wellen tun sich manchmal verschiedene Welten auf. Florian Wellbrock schwimmt ja ohnehin schon in seiner eigenen, so anmutig und zügig wie der 23-Jährige kraulen nur wenige in der Welt, am Samstag in der Schwimmhalle an der Landsberger Allee in Berlin wusste er schon vor dem Sprung ins Becken: Er wird hier gewinnen. Klar, er hatte auch das ganze Becken für sich allein. Über 800 Meter Freistil probierte sich kein anderer an der Olympia-Norm, also schwamm Wellbrock: Acht Mal hin, acht Mal zurück, in 7:43,03 Minuten schlug er, nun ja, als Erster an. Und, wie war's? Wellbrock: "Schon ein bisschen langweilig."

Langeweile war zuletzt im deutschen Schwimmen kein Thema, aber wie gesagt: Wellbrock ist in einer komfortablen Situation, als Weltmeister über 1500 Meter und 10 Kilometer im Freiwasser sind seine Chancen auf die erste Olympia-Medaille der Beckenschwimmer seit 2008 groß, am Sonntag gelang ihm über 1500 Meter Weltjahresbestzeit (14:36,45 Minuten). "Wenn ich in Tokio am Start stehe und acht Leute im Becken sind, dann wird es ein cooles Ding", sagte er in Berlin, er will immer den Fokus bewahren. Das Ticket für Tokio war ihm aufgrund seiner Vorleistungen schon sicher. Für viele andere, die sich an diesem Wochenende im Wasser tummelten, ging es durchaus um etwas, für einige sogar um Alles. Und mancher erlebte im zweiten Jahr der Pandemie noch mehr Aufregung als ihm lieb war.

Ramon Klenz etwa: Auch der 22-Jährige hüpfte ohne Konkurrenz ins Becken über 200 Meter Schmetterling, die Solo-Nummer war für ihn noch die geringste Tücke. Kurz vor Beginn der Wettkämpfe hatte er vor der Schwimmhalle einen Auffahrunfall im Auto erlitten, Diagnose: Schleudertrauma. Klenz wollte trotzdem schwimmen, umso mehr gönnten ihm die anderen, er möge sich den Traum von Olympia erfüllen, auf den Tribünen feuerten sie ihn an, doch Klenz verpasste die Norm um 34 Hundertstelsekunden. "Alle haben es ihm so sehr gewünscht, einige hatten danach tatsächlich Tränen in den Augen", sagte Athletensprecherin Sarah Köhler. Klenz bekam am Sonntag in einem extra anberaumten Lauf noch eine Chance, doch er blieb erneut über der Norm. Sein Fall war nur das Extrembeispiel in einem Jahr, das für die Schwimmer mit manchen Turbulenzen verbunden ist.

Die Querelen sorgen für Unruhe, "das beeinflusst klar meine Arbeit", sagt der Teamchef

Acht Athleten und Athletinnen hatten durch ihr gutes Abschneiden bei der zuletzt ausgetragenen WM 2019 in Gwangju in Südkorea ihr Startrecht für Olympia in Japan schon sicher, elf weitere qualifizierten sich im April, vier davon nun in Berlin. Zwei erwischte kurz vorher der Corona-Schock: Angelina Köhler und ihr Team-Kollege Sven Schwarz konnten nach positiven Tests gar nicht erst von Hannover nach Berlin anreisen, für sie könnte es wie für Klenz noch Ausnahmeregelungen geben. Christian Diener (200 Meter Rücken), Damian Wierling, Annika Bruhn (beide 100 Meter Freistil) und Lucas Matzerath (100 Meter Brust) hüpften bis Sonntagmittag noch dank Einzel-Normen in die Tokio-Truppe, durch die Staffeln kommen noch weitere hinzu. "Man muss den Hut ziehen vor den Sportlern, wie sie sich hier motivieren und zusammenreißen mit sehr dünn besetzten Läufen und ohne Zuschauer", befand Teamchef Bernd Berkhahn, der derzeit auch in verschiedenen Welten lebt: Mit seiner Magdeburger Gruppe um Ausnahmekrauler Wellbrock und Köhler könnte er zufriedener kaum sein. Und als Bundestrainer im Deutschen Schwimm-Verband (DSV)? Nun ja.

Die Querelen rund um den Posten des Leistungssportdirektors hatten in den vergangenen Wochen für reichlich Unruhe gesorgt, "das beeinflusst natürlich auch meine Arbeit - ganz klar, gar keine Frage", sagte Berkhahn vor der Olympia-Qualifikation in Berlin. Er hatte mit anderen Bundestrainern beim DSV-Vorstand um Präsident Marco Troll für eine Rehabilitierung des entmachteten Thomas Kurschilgen geworben, alternativ für die Interimslösung Michael Groß, der immerhin noch auf die Akkreditierungsliste für Tokio gesetzt wurde. Aber bisher ist noch nicht entschieden, wer bei Olympia die wichtige Funktion einnehmen wird. "Das Thema hätte schon vor zwei Wochen vom Tisch sein sollen", sagte Köhler, die den Brief mit unterzeichnet hatte, "es ist schon mehr als überfällig."

Abseits dessen schwimmt Köhler in ähnlich komfortabler Situation wie Lebensgefährte Wellbrock: 2019 eroberte sie WM-Silber über 1500 Meter, sie war daher schon für Tokio gesetzt. Und in Isabell Gose, 18, hat sie ebenso wie Wellbrock in Lukas Märtens, 19, starke Talente in der Trainingsgruppe. Auf ihrer Nebenstrecke über 400 Meter Freistil wurde Köhler am Wochenende von Gose knapp geschlagen, Wellbrock kam bis auf eine Hundertstelsekunde an seine Weltjahresbestleistung von vor einer Woche heran (3:44,36 Minuten). Da er sich voll auf die 800, 1500 Meter und das Freiwasser konzentrieren will, werden die zwei verfügbaren Startplätze über 400 Meter wohl an Märtens und Henning Mühlleitner gehen. Eine Luxussituation. Da ausländische Zuschauer bei Olympia nicht zugelassen seien, sagte Wellbrock noch, hätte er Interesse daran, "das deutsche Team groß zu halten und dass viel Stimmung vom Team Deutschland auf der Tribüne gemacht wird". Langweilig wird's auch dann sicher nicht.

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