Süddeutsche Zeitung

Olympia:Überall Viren, auch in den Gedanken

Omikron, Quarantäne, Willkür: Gar nicht so einfach gerade, sich als Olympia-Athlet auf seinen Sport zu konzentrieren. Über die größten Sorgen der deutschen Sportler - und die Aussicht, das Ganze gut zu überstehen.

Von Volker Kreisl

Im Grunde dient jede der Wintersportarten als Metapher für die Gesamtsituation. Im Winter wird von Rampen abgesprungen, sich um Slalomstangen geschlängelt, durch Eiskanäle gedonnert, im Eis-Oval an die Grenzen gegangen. Und meistens ist es nur eine kurze Unaufmerksamkeit, oder einfach Pech, und der ganze Traum platzt.

Schlüpfrig, schnell und auf die Hundertstelsekunde pünktlich geht es auch beim Rodeln zu, vielleicht noch mehr als in anderen Winterdisziplinen: Einmal zu spät dran, den Lenkpunkt verpasst - und alles ist vorbei. Nicht nur deshalb stellt etwa der Rennrodler Felix Loch ein passables Beispiel dar für die Gemütslage, in der sich zahlreiche Olympiafahrer eine Woche vor Beginn der Olympischen Spiele in Peking befinden. Loch ist dreimaliger Olympiasieger, er war viele Jahre kaum zu schlagen, dann verließ ihn die Form, er arbeitete sich zurück, zählt nun wieder zu den Mitfavoriten, aber natürlich - das alte Olympiagefühl kommt nicht auf.

Das Rennen, sagt Loch, mit den vier Durchgängen am ersten Wochenende der Spiele - ja, das wird wieder ein Höhepunkt sein. Und dann? Nichts mehr, findet Loch, der von sich aus keine Minute zu viel in China bleiben will: "Es ist irgendwo traurig, wenn das zweite Highlight der Olympischen Spiele der Flug nach Hause ist."

Risiko Corona: Keimfrei bleiben und isoliert

Weil eine Verschiebung, etwa ins Jahr 2023, von den Veranstaltern abgelehnt worden war, bewegen sich die Athleten nun auf Winterspiele zu, die wohl kein Gemeinschaftsgefühl erzeugen werden, kein Treffen der Jugend der Welt sein werden, natürlich auch kein Fest, also überhaupt nicht dem entsprechen, was Olympia im Kern ausmacht. Es geht nur darum, eine Leistung zu zeigen, und sich bis dahin keimfrei und isoliert in der Blase zu halten. Das klingt überschaubar. Was sich allerdings nicht aussperren lässt, was sich auch auf die Leistung auswirken könnte, ist das schleichende Unbehagen, das bei vielen Sportlern schon jetzt besteht. Es geht um die eigenen Freiheitsrechte, die Sorge um die Umwelt, das Befremden über den Olympia-Gigantismus in Peking, und - natürlich zuvorderst - um das, was viele Athleten hier zu Recht als Erstes befürchten: das Virus.

Mit dem Corona-Erreger in den Gedanken verbringen wohl alle Olympiafahrer die letzten Tage vor der Anreise. Es geht darum, sich möglichst abzuschotten und dennoch die letzten Wettbewerbe mitzunehmen. Skispringer und Kombinierer etwa haben noch Weltcups an diesem Wochenende, und einer wie der Weltcupführende Springer Karl Geiger hat gefühlt immer mehr zu verlieren. Betroffen sind tatsächlich aber alle. Sogar auch jene, die gar nicht dabei sind. Etwa die Münchner Eishockeyspieler, die ein wegen Corona auf kommenden Dienstag terminiertes Halbfinale in der Champions League spielen - vielleicht eine Sternstunde für den EHC -, dies aber ohne ihre Nationalspieler, die nicht nach Finnland reisen, sondern kurz zuvor mit dem DEB-Team einen anderen Flieger, nämlich den nach Peking, nehmen werden.

Sportler sind keine Hypochonder, wie etwa die Shorttrackerin Anna Seidel sagt, und dennoch hinzufügt: "Ich mache mir so meine Gedanken." Denn: "Man hört ja auch viel." Wenn sich jetzt noch jemand infiziert, dann fänden die Spiele mit großer Wahrscheinlichkeit ohne ihn oder sie statt. Deshalb steht der Alltag davor im Zeichen der Vorsicht. Seidel verlässt kaum noch ihre Wohnung, im Trainingszentrum in Dresden hat sie eine eigene Kabine mit eigenem Eingang. Einkäufe besorgen die Eltern für sie. Und für den Fall, an den wohl kein Sportler gerade gerne denkt, will sie nach China eine Art Notfallpack mitnehmen, auch mit Powerbank und Ladekabel, "damit ich mit anderen in Kontakt treten kann".

Frisierter Positivtest? Verdrängen und weitermachen

Wenn man so will, kursieren, betreffend die Olympiafahrer, derzeit drei Virenarten: das wirkliche, dann jenes im Kopf, das die Gedanken ständig auf Trab hält, und ein drittes, das die chinesischen Offiziellen zwar als nicht existent bezeichnen, das vielen Sportlern trotzdem zu schaffen macht: das möglicherweise manipulierte Virus.

Die Skeptiker sehen darin eine echte Gefahr für ihre eine, große Chance, andere, wie Felix Loch haben erkannt, dass es besser ist, sich in einen inneren Tunnel zu begeben und die Möglichkeit eines gefälschten Wertes nicht mehr in die Gedanken zu lassen. Er weiß ja, dass er nach seiner Ankunft ein volles Programm hat mit Bahnbegehung und Trainingsfahrten: "Mit anderen Sachen muss ich mich da nicht beschäftigen."

Aber das Thema ist eben auch virulent. Die Sorge, dass es zu frisierten Corona-Proben im Interesse des chinesischen Teams kommen könnte, hatte der deutsche Alpin-Vorstand Wolfgang Maier schon vor Wochen geäußert. Nun hat ihm Michael Hölz, ehemaliger Aufsichtsratsvorsitzender der Nationalen Anti-Doping-Agentur und heute Präsident von Snowboard Germany, offen zugestimmt. Hölz hat einige Erfahrung mit dem Thema Manipulation, und mit seiner Einlassung kurz vor den Spielen wird die Vermutung von Eingriffen (der die Gastgeber vehement widersprechen) nicht weniger stichhaltig.

Hölz sagt, man wisse, wie das Thema Doping in Ländern mit einer entsprechenden Verfassung gehandhabt wird, dies könne nun auch mit Corona-Proben passieren. Im Deutschlandfunk erklärte er, eine wirklich glaubwürdige Überwachung des ganzen Testsystems sei nicht zu erkennen: "Die Chance, dass falsch-positive Tests genommen werden", sei gegeben. Und auch die Anwesenheit von ausländischen Kollegen im Pekinger Corona-Experten-Panel helfe nicht, wenn diese gegenüber den chinesischen Fachleuten in der Minderheit sind. Hölz' konkrete Sorge: "Wir alle wissen, dass im Bereich Snowboard die Chinesen sich das eine oder andere ausrechnen. Und wir reisen mit einem sehr starken Team an." Was das bedeuten könnte, dürfe sich nun jeder selbst überlegen.

Von den Athleten würden sich wohl viele sehr gerne beruhigen lassen, nur ist das nicht so einfach. Brian McCloskey, der Chef der Expertenkommission, verweist auf die üblichen Standards mit Barcode, Nachverfolgung und Beaufsichtigung durch die Pekinger Behörden. Doch wirkt dies in einem Land, das seine Bürger perfekt überwachen kann, fast schon naiv. Genauso wenig glaubwürdig klingen die Sätze von Huang Chun, Vize-Chef Pandemie-Vorsorge im OK. Dem Online-Dienst insidethegames zufolge sagte er: "Unsere Labore werden von professionellen Mitarbeitern geführt, die ein strenges Training erhalten haben", was bedeute: "Diesen Labor-Ergebnissen kann man gut trauen." Und: "Jedwede Zweifel sind unnötig."

Ein anderer langjähriger Experte im Thema Manipulationsbekämpfung, der Pharmakologe Fritz Sörgel, will Manipulationen aber auch nicht ausschließen und erinnerte an eine andere Ausgabe der Winterspiele, nämlich an die in Russland 2014: "Seit Sotschi wissen wir, dass Wände plötzlich Löcher haben können", sagte Sörgel dem Münchner Merkur. Damals wechselte ein Mitarbeiter hinter einer Holzwand mögliche Positiv-Tests der Russen, was später aufflog. Heute kann Sörgel die Versuche der chinesischen Gastgeber, Vertrauen bei den Sportlern zu gewinnen, so nicht unterstützen. Im Gegenteil: Die Auswertung der Tests laufe zwar voll automatisch, "aber auch diese Maschinen sind nicht nur theoretisch manipulierbar".

Jenseits von Gold, Silber und Bronze: die Menschenrechte

Weil immer mehr Athletinnen und Athleten bei Olympia auch über ihre Sportarten hinausblicken, weil sie längst mehr sind, als Botschafter der eigenen stolzen Nation, sondern zunehmend vernetzt denken, bleibt es für viele nicht bei einem Kurzauftritt nach dem Motto Augen zu und durch. Denn die Spiele laden immer auch zum Denken ein, und neben der Wettkampfmanipulation bewegt die Teilnehmer auch eine weitere Frage weit jenseits vom Kampf um Gold, Silber oder Bronze - nämlich die Menschenrechte.

Die deutsche Bobfahrerin und Olympiasiegerin Mariama Jamanka hatte in diesem Winter in der ARD schon früh erklärt, dass sie es falsch findet, Spiele noch in ein Land zu vergeben, in dem es diese Menschenrechte faktisch nicht gibt. Der kürzliche Versuch eines OK-Mitglieds, Wettkämpfern politische Äußerungen etwa nach Wettkämpfen oder in Interviews zu verbieten, hat Reaktionen in den freien Gesellschaften ausgelöst. Zum eigenen Schutz hatte der Verein Athleten Deutschland den Sportlern nahegelegt, sich eher zurückzuhalten. Mittlerweile liegt ein Positionspapier des AD e.V. vor, in dem auch während der Spiele in Peking Meinungsfreiheit für Sportler gefordert wird. Der deutsche Dachverband DOSB und der Behindertenverband DBS erklärten: "Wir werden unsere Athleten immer beschützen, ob sie außersportliche Themen ansprechen oder nicht." Und Theresa Bergmann, China-Expertin von Amnesty International forderte: "Es darf hier keinerlei Einschränkungen geben."

Sportler? Sind hauptsächlich Sportler - auch in Peking

Die Frage ist also, ob und wann jemand aus dem Kreis der Teilnehmenden es als Erstes wagt, die Ausrichtung der Spiele in diesem Land offen zu kritisieren. Das Internationale Olympische Komitee hält sich bislang zurück, dabei müsste die olympische Bewegung längst viel weiter sein. Die Spiele samt versuchter Athleten-Zensur in einer Diktatur sind anachronistisch, und Athleten Deutschland vertritt längst die Ansicht, dass auch öffentliche Meinungsäußerungen über Fragen der Menschenrechte erlaubt sein müssen. Zum einen, weil es heute selbstverständlich ist, dass Sportler, von denen Vorbildfunktion und Mündigkeit verlangt wird, nicht zensiert werden dürfen. Zum anderen, weil das IOC Meinungsäußerungen längst faktisch erlaubt hat. Bei den Spielen in Tokio wurde der Antrag der deutschen Hockeyspielerin Nike Lorenz schriftlich und offiziell genehmigt, eine Regenbogenbinde zu tragen, ein deutliches politisches Symbol für Diversität sexueller Ausrichtung.

Die Frage, und da führen alle Problemlinien dieser Spiele wieder zusammen, ist nun, ob es den einzelnen mündigen Sportlern wert ist, sich einem großen Risiko auszusetzen. Niemand will einen falschen Positivtest erwischen, für eine unbequeme Meinungsäußerung, die eigentlich Sache der Verbände wäre. Bob-Pilotin Jamanka hatte daher auch kritisiert, dass die Verbände es sich leichtgemacht hätten, dieses Thema auf die Athleten abzuwälzen: "Wir Sportler sind hauptsächlich Sportler, wir lieben unseren Sport und wir opfern viel dafür, aber wir entscheiden nicht, wo diese Spiele stattfinden."

Es wäre also auch das gute Recht aller Aktiven bei diesen Spielen in China, vor allem daran zu gehen, sich ihren Traum vom Erfolg zu erfüllen, im klassischen sportlichen Konzentrationstunnel zu verschwinden, und es danach vielleicht so zu machen wie der Rodler Felix Loch, der sagt: "Ich bin auch so ehrlich, dass ich nach diesen Spielen höchstwahrscheinlich nicht mehr in dieses Land reisen werde."

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