Lena Dürr:Olympiasiegerin bis zur letzten Zwischenzeit

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"Es tut grad richtig weh": Lena Dürr realisiert, um welche Winzigkeit sie im Olympia-Slalom eine Medaille verpasst hat. (Foto: Daniel Goetzhaber/Gepa/Imago)

Ein paar Hundertstelsekunden zwischen Gold und Platz vier: Lena Dürr erlebt nach einer Karriere voller Wendungen, dass knappes Scheitern noch immer das bitterste ist.

Von Johannes Knuth

Wo fängt man bloß an nach solch einem Tag? Bei Mikaela Shiffrin, der besten Skirennfahrerin der jüngeren Vergangenheit und bald wohl der Geschichte? Die seit einem Jahrzehnt fast nie aus einem Rennen fiel, die nun im olympischen Riesenslalom und Slalom insgesamt (!) elf Tore und 16 Fahrsekunden zusammenbrachte - und die sich nach ihrem nächsten, sensationellen Aus im ersten Lauf des Slaloms am Mittwoch der blanken Ehrlichkeit hingab, indem sie sagte: "Ich war noch nie in solch einer Situation. Ich weiß nicht, wie ich das meistern soll."

Oder bleibt man doch bei Petra Vlhova hängen, Shiffrins großer Widersacherin? Deren Kraft auf dem feinen Schnee in Yanqing bislang verpufft war, die am Mittwoch im zweiten Lauf nur noch eine schmale Chance hatte? Und die dann eines dieser Comebacks aufführte, die es problemlos mit Manchester Uniteds Champions-League-Rausch 1999 gegen den FC Bayern aufnehmen können?

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Auch die Österreicherin Katharina Liensberger und die Schweizerin Wendy Holdener, die Silber und Bronze gewannen, strickten fleißig an der Geschichte dieses Rennens. Wie die Schwedin Sara Hector, die nach von Enttäuschungen getränkten Jahren zuletzt den olympischen Riesenslalom gewann und nun mit Zwischenbestzeit aus dem Rennen rutschte, kurz vor dem Ziel. Am Ende musste man aus deutscher Sicht aber natürlich doch bei Lena Dürr landen: der Schnellsten des ersten Laufs, der Olympiasiegerin bis zur letzten Zwischenzeit - ehe sie im Ziel in den Schnee sank, kauerte, dann die Skibrille abnahm, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen.

Viel Rede- und Tröstbedarf: Mikaela Shiffrin scheidet am Mittwoch aus - zum zweiten Mal binnen zwei Tagen bei diesen Spielen. (Foto: Robert F. Bukaty/AP)

19 Hundertstelsekunden zu Gold. Sieben hinter dem Bronzeplatz. Nicht mal ein Zucken, das zwischen Gold und Nichts trennt. Während Vlhova im Ziel ihre Betreuer herzte, alle Corona-Regeln in den Wind schoss, was ihr freilich niemand krummnahm - im Schatten dieser Glückseligkeit also starrten Dürrs Teamkolleginnen zu Boden und wieder auf die Anzeigetafel, als würde diese gleich bestimmt noch ihre Meinung ändern.

Später kleidete Dürr die Nachricht des Tages in sehr gefasste Worte: Das bitterste Scheitern, räumte sie ein, sei noch immer das knappe Scheitern. Sie zierte sich zunächst, in die Beweisführung einzusteigen, tat es dann doch, es war ja recht simpel. Es gab keine äußeren Umstände, die man haftbar machen konnte, keine falsch geschliffenen Ski-Kanten, keine nachlassende Piste, keine verfluchten Ski-Götter. "Man darf sich keinen Fehler erlauben, wenn man ganz oben stehen will", sagte Dürr, und von diesen Fehlern hatte sie sich ein paar zu viele genehmigt. So blieb noch die weitere Erkenntnis, dass einen dieser Sport auch dann noch brutal abweist, wenn man für ihn jahrelang durch tiefe Täler reist - und dann fast alles richtigmacht. Aber eben nur fast.

Es gab Zeiten, da wirkte Dürr wie eine Pilotin, die ein Flugzeug mit jedem Manöver in noch größere Turbulenzen steuerte

Vor knapp einem Jahrzehnt hätten sie im Deutschen Skiverband wohl gestaunt über den Pfad, der Dürr zu diesem wuchtigen Tag geführt hatte. Dürr hatte damals gerade ihren ersten Weltcup-Sieg in einem Parallelrennen erstanden, dazu WM-Bronze mit der Mannschaft. Die Trainer schwärmten von dieser Fahrerin, die eine Mannschaft über Jahre tragen könnte. Ihnen gefiel Dürrs schneller Schwung und mindestens genauso gefiel ihnen Dürrs Kopf: Sie sei keine, die hadere oder zweifele.

Dann fand sie im Olympiawinter 2013/14 plötzlich schwer in die Saison. Zweifelte und haderte doch. Verpasste die Spiele in Sotschi. "Es ging jahrelang nur bergauf", sagte sie damals, "jetzt auf einmal nicht mehr". Sie kannte das nicht: mit etwas zurechtzukommen, das man vorher noch nie erlebt hat.

Manche Athleten erleben diesen Blues für einen Winter, vielleicht für zwei. Dürrs Tief spannte sich über Jahre. Alles, was sie zum Erfolg getragen hatte, lief nun ab, als habe jemand die Rückspultaste gedrückt. Sie zweifelte, fuhr unsauber, wechselte die Ski-Ausrüster, zweifelte und haderte noch mehr. Vor allem im Slalom ist das ein fatales Gebräu: Die Fahrerinnen bläuen sich ihre Schwünge im Grunde vor dem Rennen ein, im Lauf übernimmt das Unterbewusstsein - wie ein Autopilot, weil die Stangen viel zu schnell auf einen zufliegen, um bewusst zu reagieren.

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Es gab Zeiten, da wirkte Dürr wie eine Pilotin, die ein Flugzeug mit jedem Manöver in noch größere Turbulenzen steuerte. Vor knapp drei Jahren hatte Jürgen Graller, ihr Cheftrainer, dann genug vom "Dahinwurschteln". Dürr verlor ihren Kaderstatus, zunächst einmal für die Vorbereitung. Sie habe die Entscheidung nicht so recht verstanden, erzählte sie zuletzt - wieso sollte sie noch ein Umweg nun schneller zum Ziel führen? Heute sagen sowohl Athletin als auch Betreuer, dass die Zeit sie sehr "geprägt" habe. Wer zwei, drei Schritte zurück macht, sieht ja oft erst das ganze Bild.

Dürr musste sich damals eine eigene Trainingsgruppe suchen, musste ihre Skier selbst präparieren, was zuvor ein Servicemann getan hatte; sie trainierte auch oft mit Männern, tauschte sich mit ihrem Ski-Ausrüster aus. Viel Wissen, das sie einbrachte, als sie zum Saisonstart wieder ihre alten Privilegien erhielt. "Gewisse Sachen sind einfach keine Selbstverständlichkeit mehr", sagte Graller zuletzt. Und es schadete wohl auch nicht, dass in Georg Harzl kurz darauf ein Trainer die Technik-Sparte übernahm, der unvoreingenommen zum DSV stieß - und dort auf eine Athletin traf, die noch besser wusste, was ihr guttat und was nicht.

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Eine Chance hat Dürr in Peking noch, mit dem Team

Der Eisberg an Zweifeln taute nun endgültig ab. Zu Beginn dieses Winters stand Dürr im Slalom, ihrer besten Disziplin, in Levi erstmals auf dem Podest, als Dritte. Es war, als tue sich eine neue, alte Welt auf. Dürr wurde in Levi und Schladming noch zweimal Dritte, testete intensiv auf dem Kunstschnee in China, bis sie mit einer Lockerheit in den Wettkampf zog, die man ihr lange nicht angesehen hatte. Als hätte ihr jemand eine Gebirgskette von den Schultern gestoßen.

Bis zu diesem zweiten Lauf, in den Vlhovas Trainer Mauro Pini, der im Voraus als Kurssetzer ausgelost worden war, ein paar Fallen eingebaut hatte. Dürr hielt zunächst ihren Vorsprung, sieben Zehntelsekunden, acht Zehntel. Dann wackelte sie kurz - plötzlich schienen die Geister von einst wieder an ihr zu rütteln. Sie wehrte sich, bloß nicht wieder passiv werden, ins Rutschen geraten, wenn es mal hakt. Noch zwei Zehntelsekunden Guthaben bei der letzten Zwischenzeit. Die Haarnadel im Steilhang, eine letzte Stelle, die sie nicht vermasseln durfte. Sie schaffte es nicht. Vierte.

Ein paar Fehler zu viel: Lena Dürr. (Foto: Michael Kappeler/dpa)

Irgendwann wird Dürr vermutlich das Positive herausfiltern: Zum Beispiel, dass auch vierte Plätze bei Olympia ein Zeugnis davon sind, in diesem Sport dabeigeblieben zu sein, der seine Athleten immer wieder enttäuscht und deshalb umso größere Ausdauer verlangt. Und eine Chance hat sie in Peking ja noch, mit dem Team. Wobei Dürr das am Mittwoch erst mal beiseite wischte, und wer wollte es ihr verdenken? Nach Halbzeit-Führung; glänzender Form; einem Schnee, der Dürrs schleichender Fahrweise schmeichelte; Widersachern, denen die Nerven vibrierten.

Am Ende kroch einem wieder das in den Sinn, was der Publizist Jan Philipp Reemtsma über das Verlieren schrieb: "Man wächst nicht an Niederlagen. Man geht an Niederlagen zugrunde, und wo man nicht zugrunde geht, wird man deformiert." Das war dann die letzte Botschaft des Tages: dass auch diese umstrittenen Spiele in Peking in ihren lichten Momenten so sind wie das Leben.

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