Manchmal fällt die wichtigste Entscheidung des Wettkampfs schon im Halbfinale. So war es jedenfalls bei Lucia Dörffel und ihren beiden Teamkollegen Alexander Megos und Yannick Flohé. Beim letzten Qualifikationswettbewerb im Klettern sicherten sich die drei Deutschen noch vor dem Finale in Budapest ihre Olympiateilnahme in Paris. Bis zuletzt hat niemand mit so einem Erfolg des deutschen Teams gerechnet, die Athleten hatten mit Verletzungen zu kämpfen und die deutschen Frauen konnten lange nicht in der Weltspitze mitklettern. Lucia Dörffel beweist nun: Sie gehört auf die ganz große Bühne.
Dabei waren die äußeren Bedingungen für die 24-Jährige und ihre Konkurrentinnen an den vier Wettkampftagen nicht einfach. Erst zeigte das Thermometer 37 Grad Celsius im Schatten an, dann folgte eine Wettkampfverlegung wegen Unwettern, später umtoste die Kletternden starker Wind an der Wand. Zumindest sei die trockene Hitze in Budapest halbwegs erträglich gewesen, sagt Dörffel. Denn beim ersten von zwei Qualifikationswettbewerben in Shanghai Mitte Mai war zur Hitze noch extreme Luftfeuchtigkeit hinzugekommen. Trotzdem holte sie in Shanghai mit Platz zehn genügend Punkte, um sich in Kombination mit dem neunten Platz in Budapest die Reise nach Paris zu sichern. In beiden Wettbewerben verpasste sie den Einzug ins Finale jeweils nur knapp.
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Für Dörffel sind dies herausragende Erfolge. Den Grundstein hatte sie früh gelegt. Aufgewachsen ist sie in Chemnitz und ging schon als Kind mit ihren Eltern, der Schwester und dem Opa zum Klettern ins Elbsandsteingebirge oder fuhr in Kletterurlaube. Als 2010 die erste Kletterhalle in ihrer Heimatstadt eröffnete, trat sie einer Gruppe bei und fing mit systematischem Training an. Es war der Ausgangspunkt ihrer Karriere als Profi. Das Felsklettern nimmt immer noch einen großen Stellenwert in ihrem Leben ein, sagt sie. Dörffel lebt in München und studiert dort Sportwissenschaften, das Klettern sei für sie wichtig, „um mental herunterzufahren“.
Bei Olympia 2028 wird wohl wieder in allen Disziplinen geklettert
Sie sieht sich nicht erst nach dem Wettkampf in Budapest in einer sehr guten Verfassung. „Mein Kopf fühlt sich frei an“, sagt sie, das sei die wichtigste Voraussetzung, um eine starke Leistung im Wettkampf an die Wand zu bringen. Sie habe nach dem Wintertraining gespürt, dass sie fit ist. Aber erst als sie selbst daran geglaubt hat, es in die Weltspitze zu schaffen, sei ihr Selbstvertrauen gewachsen. Ihr Studium hatte sie fürs Training reduziert.
Zudem half ihr, auch auf mentale Komponenten zu schauen, sagt sie. Mit Friederike Kops aus dem Nationaltrainerteam hat sie am Erwartungsmanagement gearbeitet. Denn nach dem Wettkampf in Shanghai wusste Dörffel, wie greifbar eine Olympiateilnahme für sie war, das habe sehr viel Druck verursacht. Den konnte sie aber lösen: „Ich habe mich mental darauf vorbereitet, dass es auch nicht klappen könnte.“ Ihre Einstellung sei gewesen, den Wettkampf einfach zu genießen – „egal, was kommt“. Nach dem Halbfinale in Budapest war dann alles klar.
Und zwar nicht nur bei ihr. „Als wir wussten, dass wir durch sind, war es sehr emotional“, sagt Ingo Filzwieser, der Sportmanager des deutschen Kletterteams. Besonders auf Dörffel ist er stolz, die seiner Meinung nach eine „von der Kraft her stärksten Kletterinnen der Welt ist“. Die Jahre des systematischen Trainings zahlten sich nun auch bei den Athletinnen aus.
Mit drei Olympiafahrenden hat er dennoch nicht gerechnet, obwohl er es letztlich bedauert, dass es nicht vier geworden sind, denn Hannah Meul, die große Favoritin bei den deutschen Frauen, verpasste ihre Chance. Das Geheimnis des Teamerfolgs seien Anpassungen, die schon vor Monaten erfolgten, sagt Filzwieser: „Wir haben unser Training im Winter umgestellt“, damit wurde auf die Veränderungen im Schraubstil hin zu mehr Dynamik reagiert. Der Fokus lag auf Koordination, Balance- und Sprungtraining sowie insgesamt auf Vielseitigkeit. Natürlich habe auch jeder und jede an individuellen Schwächen gearbeitet.
Bei den Wettkämpfen in Shanghai und Budapest konnten sich noch je zwölf Frauen und Männer für die insgesamt jeweils zwanzig Olympiastartplätze in der kombinierten olympischen Disziplin aus Bouldern und Lead qualifizieren. Die Paris-Teilnahmen wurden schon vergangenes Jahr vergeben. In der Einzeldisziplin Speed treten insgesamt 24 Athleten und Athletinnen bei den Spielen an. Das neue Format sei immerhin besser als die Kombination aus allen drei Disziplinen, wie noch 2021 in Tokio, sagt der 41-jährige Tiroler Filzwieser. Trotzdem sei es fordernd für die Aktiven, über vier Tage Spitzenleistungen in zwei Disziplinen zu liefern. Viel hänge dabei auch von der Route ab. Für Olympia in Los Angeles 2028 stehen laut Filzwieser die Zeichen aber gut, dass die Athleten in allen drei Disziplinen – Bouldern, Lead und Speedklettern – Einzelmedaillen erringen können. Was ihn besonders freut: 2028 feiert auch das Paraklettern sein Olympia-Debüt. „Endlich bekommen auch sie den Respekt, den sie verdienen.“ Aber nun stehe erst mal Paris an.
Und wie verbringt Lucia Dörffel die vier Wochen bis zu ihrem Auftritt auf der größten Sportbühne der Welt? „Das steht noch nicht fest“, sagt sie. Vielleicht nehme sie noch an einem Lead-Weltcup teil, der Disziplin, in der sie etwas schwächer ist als im Bouldern, ihrer liebsten Spielart im Klettern. Ansonsten hat sie noch keine Erwartungen an die Olympiateilnahme geknüpft. Bislang haben ihre Gedanken „nur bis Budapest gereicht“, sagt sie und lacht. Am Ende gehe es ihr vor allem darum, so gut wie möglich zu klettern – und ihre Zeit zu genießen.