Süddeutsche Zeitung

Olympia-Momente:Die Tränen des Renaud Lavillenie

Botschafter Bolt, dicke, rote Wurstspieße und Bestmarken, die dank Gotteskraft zustande kamen: sechs erinnerungswürdige Olympia-Momente in der Leichtathletik.

Von Saskia Aleythe und Johannes Knuth, Rio de Janeiro

Ab in den Urlaub

Usain Bolt hatte es geschafft. Der 29-Jährige hatte gerade die neunte Goldmedaille in seiner Schatzkiste verstaut, mit der 4x-100-Meter-Staffel der Jamaikaner. Er hatte den Sieg locker ins Ziel gebracht, überhaupt: "Wir haben in diesem Jahr zwei Staffeleinheiten abgehalten", sagte Bolts Kollege Asafa Powell, "aber nur eine mit Usain." Bolt firmiert jetzt jedenfalls als Dreifach-Olympiasieger von Rio, weil er zuvor die 100 und 200 Meter gewann. Und weil er das auch in London 2012 und Peking 2008 schaffte - wo die Staffel mit dem dopingverdächtigen Nesta Carter unterwegs war -, lautet seine korrekte Anrede fürs Erste: dreimaliger Dreifach-Olympiasieger. Wobei Bolt ja gerne in extraterrestrischen Dimensionen denkt. In Rio sagte er, als ihn ein Reporter in den Stand der Unsterblichkeit hob: "Das gefällt mir."

Keine Angst, Bolt denkt auch an die Sorgen des Volkes. Die Regierung hat ihn längst mit einem Diplomatenpass ausgestattet. "Ich bin ein großartiger Botschafter", bestätigte Bolt, "ich bringe Touristen und Jobs in mein Land." Nach SZ-Informationen kommt Bolt für 87 Prozent des jamaikanischen Bruttoinlandsprodukts auf, er hat der Nation zudem neun zeitgenössische Sinfonien geschenkt und wird demnächst die erste bemannte Expedition der Jamaikaner zum Pluto leiten. Was ihm sein Sport noch an Zielen biete, bevor er sich 2017 in seine wohl letzte Saison aufmacht? Bolt sagte: "Keine Ahnung. Jetzt freue ich mich erst mal auf den Urlaub."

Souvenirs aus Gold

Diesmal geriet er nicht ins Straucheln. Am Samstag brachte der Langstreckenläufer Mo Farah aus Großbritannien sein Können von der ersten bis zu letzten Runde der 5000 Meter zum Klingen, langsam und immer lauter, wie bei einem kraftvollen Crescendo. Über 10 000 Meter, war ihm noch Trainingspartner Galen Rupp in die Hacken gestiegen, "das war's", dachte Farah, während er über die Bahn krabbelte. War's dann aber nicht. Farah gewann auch in Rio beide Ausdauerübungen, und er gewann sie so, wie er schon in London 2012 seine Olympiasiege erschaffen hatte: mit der letzten Runde, am Samstag in 53 Sekunden.

Rio war ein erfolgreicher Geschäftsausflug für ihn, der sich vor fünf Jahren erst in die Weltspitze hob, nachdem er sich dem Oregon Project von US-Trainer Alberto Salazar angeschlossen hatte. Der Amerikaner Matthew Centrowitz, ein weiterer Salazar-Klient, entwendete den Afrikanern am Wochenende überraschend den Sieg über 1500 Meter. Und Rupp, Salazars Lieblingsschüler, beendete den Marathon sogar als Dritter, hinter Eliud Kipchoge aus Kenia. Vor ein paar Jahren hätte man die Erfolge wohl Salazars ausgeklügeltem Projekt zugeschrieben, mit Höhenkammern und allen Raffinessen, als Sieg der Wissenschaft über die Begabungen der Ostafrikaner. Aber der Lack ist ganz schön zerkratzt, seitdem das Projekt im Vorjahr von Dopingvorwürfen umweht wurde. Die amerikanische Anti-Doping-Agentur ermittelt.

Farah sagte dazu in Rio nichts, er war glücklich, dass er die Stadt mit genügend Souvenirs für die Familie verließ. "Ich kann es nicht erwarten, meinen beiden Töchtern die Goldmedaillen umzuhängen", sagte er.

Im Rausch der Traurigkeit

Ein Brasilianer wird Olympiasieger im Stabhochsprung? Das hatte die Leichtathletikwelt noch nicht gesehen. Und darüber redete die Szene dann auch nur kurz, weil die Worte und Bilder, die im Anschluss in die Welt schwirrten, sich über alles andere legten. Thiago Braz Da Silva und Renaud Lavillenie kämpften um Gold, doch dem Franzosen machte die Atmosphäre zu schaffen: Die Menge buhte und pfiff, das ist man als Leichtathlet nicht gewohnt, auch nicht als Weltrekordinhaber. Das Publikum fiel von einem Rausch, wenn Da Silva sprang, ins nächste Pfeifkonzert, wenn Lavillenie an der Reihe war.

Als Da Silva überraschend 6,03 Meter vorlegte, probierte es Lavillenie noch einmal mit 6,08 Metern, aber der Abend hatte ihm sichtlich die Kraft geraubt. Ihm blieben 5,98 Meter und Platz zwei. "Ich bin sehr traurig und enttäuscht über die Brasilianer. Sie können ihre Emotionen nicht kontrollieren", sagte Lavillenie später und verglich sich in seiner Traurigkeit mit Jesse Owens. Dem dunkelhäutigen Amerikaner hatte 1936 das deutsche Publikum allerdings zugejubelt - zum Leidwesen der regierenden Nazis. Ein riesiger Fehler, sagte Lavillenie später über diesen Vergleich. Aber da war das brasilianische Publikum längst wütend. Wie Lavillenie am nächsten Tag bei der Siegerehrung die Tränen übers Gesicht liefen, weil ihn die Brasilianer erneut ausbuhten - das war eines der traurigsten Bilder dieser Spiele.

Giftige Geschäfte

Die Leichtathletik hatte noch gar nicht richtig begonnen bei diesen Spielen, da fiel ihr schon der erste Weltrekord zu: Die Äthiopierin Almaz Ayana flüchtete über 10 000 Meter früh aus dem Feld, sie knüpfte eine schnelle Runde an die nächste, bis den Beobachtern irgendwann der Atem stockte: 29:17,45 Minuten. 14 Sekunden schneller als die vergiftete Zeit der Chinesin Junxia Wang, die der verruchten Laufgruppe des chinesischen Trainers Ma Junren angehört und im vergangenen Frühjahr erklärt hatte, bei ihrem Rekord betrogen zu haben. Jetzt stand Ayanas Zeit in der Landschaft, und es dauerte nicht lange, bis ihr die Zweifel zuflogen.

Die Leichtathleten haben einige beachtliche Leistungen in die Ahnengalerie ihres Sports gehängt, zwei weitere Weltrekorde durch den 400-Meter-Läufer Wayde van Niekerk (43,03 Sekunden) und die Hammerwerferin Anita Wlodarczyk (82,29 Meter), dazu neun olympische Rekorde. "Unser Sport ist am Leben", sagte IAAF-Präsident Sebastian Coe, als er über die Bestmarken dozierte, sie waren sein bestes Verkaufsargument in Rio. Das Geschäftsmodell ist freilich gefährlich. Der festgefahrene Anti-Doping-Kampf bietet wenig Gewissheit und viele Schlupflöcher. Ayana hat ihre Leistung mit ihrem Glauben begründet ("Mein Doping ist Gott"), die Wettbewerbe von Rio waren überhaupt eine metaphysische Leistungsmesse. "Gott ist groß", sagte van Niekerk nach seinem Lauf und fügte an: "Der Himmel ist das Limit."

Gold in der Verlängerung

Den besten Wettkampf in ihrem Sportlerleben, sagte die Hochspringern Ruth Beitia, habe sie längst hinter sich. Daran ändere auch ihr Olympiasieg mit 1,97 Metern nichts, der ihr eine "Explosion an Glückseligkeit" bescherte. Nein, den besten Wettkampf hatte sie vor vier Jahren gezeigt, bei den Olympischen Spielen in London, als sie mit 2,00 Meter auf dem vierten Platz strandete. Wieder keine Olympia-Medaille. Sie hörte erst einmal mit dem Hochspringen auf, sie war damals bereits 33.

Sie brachte sich im kantabrischen Parlament ein, probierte neue Sportarten aus, kehrte wieder zur Leichtathletik zurück, erst einmal nur zum Spaß. Halbtags arbeitete sie als Lokalpolitikerin im Parlament. "In den letzten Jahren ist es sehr gut gelaufen. Ich konnte jeden Tag trainieren", sagte sie, trotz oder gerade weil sie nicht mehr jede Stunde in ihren Sport steckt. "Ich bin quasi in der Verlängerung", sagte sie, "ich wollte unbedingt noch einmal eine Olympia-Medaille." Und jetzt? "Muss ich mir einen neuen Traum suchen, sagte Beita, 37.

In der Matrix

Daofa nahm einen Spieß vom Grill, mit dicken roten Wurstscheiben. "Schmeckt's?" Schmeckte. Na gut, kleine Notlüge, der Spieß lag etwas zu lang auf dem Grill. Aber die Verkäuferin erhielt mildernde Umstände. Im Fernsehen lief gerade das Halbfinale im Fußballturnier der Frauen, Brasilien gegen Schweden. Währenddessen erzählte Oswald, Daofas Mann, dass ihre Tochter heute Abend zur Leichtathletik gehen würde, das Stadion ragte hinter ihnen in die schwüle Nacht, davor das Haus, vor dem Daofa und Oswald ihre Wurstspieße verkauften. Die Veranstalter hatten ihrer Tochter ein Ticket geschenkt, wie Tausenden Schülern. Um das oft leere Stadion nicht ganz so leer aussehen zu lassen.

Die Leichtathletikarena, die 57 000 Zuschauern Platz bot, war oft nur zur Hälfte gefüllt, wenn überhaupt. Weil der Sport schwächelt? Nun gut, die selbsternannte Kernsportart Olympias wurde in Rio am Rand einquartiert, im Stadion des Fußballklubs Botafogo, fernab vom Olympiapark. Viele Ticketagenturen hatten Karten als verkauft gemeldet, dann aber nicht abgesetzt. Oder in den Worten von IAAF-Präsident Sebastian Coe: "Wir hatte eine komplexe Matrix von Problemen." Diese Spiele waren freilich auch die Spiele der Politiker und der Oberschicht, nicht von Daofa und Oswald. Ein Ticket? Viel zu teuer, sagte Oswald. Sie hätten ohnehin keine Zeit, sie müssten Fleischspieße verkaufen. Und jetzt sei die Stimmung sowieso nicht gut. Brasiliens Fußballerinnen hatten verloren, im Elfmeterschießen.

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SZ vom 22.08.2016/fued
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