Olympische Spiele:Die Verletzlichkeit der Athleten

Olympische Spiele: Nach ihrem Aus im Slalom spendet ein Mitglied des US-Teams der gescheiterten Favoritin Trost.

Nach ihrem Aus im Slalom spendet ein Mitglied des US-Teams der gescheiterten Favoritin Trost.

(Foto: Robert F. Bukaty/AP)

Es wird oft übersehen, wie stark der Sport die Psyche der Athleten belastet. Doch das Beispiel der gestolperten Ski-Favoritin Mikaela Shiffrin zeigt, dass einiges in Bewegung gerät.

Kommentar von Johannes Knuth

Das Erstaunlichste an den ersten Auftritten der Skirennfahrerin Mikaela Shiffrin bei diesen Winterspielen waren nicht ihre völlig überraschenden Fehler, deretwegen sie es in zwei Rennen nur auf rund ein Dutzend Tore und einige Sekunden Fahrzeit brachte. Das Erstaunlichste waren die 45 Minuten nach ihrem Aus im Slalom, einer Disziplin, die die Amerikanerin in den vergangenen Jahren auf zum Teil absurde Art dominierte.

Eine Dreiviertelstunde lang sprach Shiffrin in TV-Kameras, Radiomikrofone, Aufnahmegeräte. Wäre Radio Eriwan in Peking präsent, die 26-Jährige hätte wohl auch dort das scheinbar Unerklärliche zu erklären versucht: wie alles schlicht zu viel geworden sei, eigene und fremde Erwartungen, die Konkurrenz, die Nerven. Und dann komme sie sich auch noch dumm vor, dass sie sich das alles zu Herzen nehme - gebe es nicht viel schlimmere Dinge auf der Welt? Shiffrin hätte das vermutlich kaum getröstet, aber diese Dreiviertelstunde wirkte am Ende fast so wertvoll wie eine Olympiamedaille.

Es ist einiges in Bewegung geraten in der Welt der Hochleistungskultur, die bei Olympia so grell im Licht steht wie sonst nie, im Guten wie im Schlechten. Der Mief des Machotums, keine Schwächen zu zeigen, verzieht sich langsam. Mentaltrainer verlieren das Stigma des Seelenklempners, den man heimlich aufsucht, wenn es nicht läuft. Immer mehr Athleten reden offener darüber, wie ihr Beruf sie auch verletzen kann. Die New York Times veröffentlichte zuletzt die Protokolle von mehr als einem Dutzend Wintersportlern, die den psychischen Zoll ihres Tuns umrissen: wie einen der Perfektionismus zerfressen kann; was es bedeutet, auf eine Chance hinzuarbeiten, die alle vier Jahre aufscheint; welche Wege sich der Druck auf dem Weg dorthin bahnen kann, bis hin zu Depressionen und Essstörungen. Und bei manchen vermutlich auch: hinein in den Betrug.

Zuletzt sagte ein Drittel der deutschen Athleten, dass sie bei den Spielen mental nicht voll präsent waren

Anna Gasser, die Snowboard-Olympiasiegerin von 2018 aus Österreich, dankte dabei auch Simone Biles - der zweifellos erfolgreichsten Turnerin der Geschichte, die bei den Spielen in Tokio zuletzt aus dem Wettkampf ausgestiegen war, weil sie sich den Herausforderungen ihres Gewerbes nicht mehr gewachsen sah. "Das war ein Wendepunkt", sagte Gasser, "eine Botschaft, dass wir nicht nur Athleten sind, sondern auch Menschen und keine Roboter."

Und doch gibt es noch immer so viel zu tun. Ein Drittel der deutschen Kadersportler sagte in einer Studie zuletzt, dass sie bei den Olympischen und Paralympischen Spielen in Tokio nicht voll mental präsent waren - weil die Ungewissheiten ihres Alltags auf ihnen lasteten, die schlechte finanzielle Entlohnung etwa, auch die überzogenen Erwartungen und mangelnde Wertschätzung in Medien und Öffentlichkeit.

So dienen Shiffrins Äußerungen auch als Erinnerungen an all jene, die vielleicht ein bisschen vorschnell genervt sind, wenn ihre Lieblingssportler mal wieder nicht schnell genug den Berg hinabfahren: dass Athleten Teil eines Spiels sind, dessen Kräften sie nicht immer gewachsen sind, mit Körper und Kopf. Es ist zumindest schon auffällig, dass es vor allem zwei Phasen waren, in denen Shiffrin in den vergangenen Jahren wirklich krass um die Kontrolle kämpfte: vor den Winterspielen 2018 und 2022. Just dann also, wenn in den USA die Öffentlichkeit zur Abwechslung ihren Blick über die Footballbaseballeishockeybasketballblase hinaus richtet. Und Medaillen erwartet, was sonst.

Shiffrin wurde am Freitag im Super-G übrigens Neunte, aber das Wichtigste sei gewesen, dass sie wieder Freude am guten Skifahren hatte, teilte sie mit. Gold ging an die Schweizerin Lara Gut-Behrami, die auch einiges darüber erzählen kann, wie es ist, über ein Jahrzehnt lang einem Olympiasieg hinterherzurennen, den eine ganze Skination von einem erwartet.

Die New York Times titelte am Freitag übrigens nicht von verpassten Medaillenchancen oder verpatzten Schwüngen, sie schrieb: "Shiffrins Lächeln kehrte zurück."

Zur SZ-Startseite
French Open

SZ PlusNaomi Osaka
:"Ich habe mich verletzlich gefühlt"

Tennisspielerin Naomi Osaka zieht sich nach Depressionen von den French Open zurück - und macht dies in einem Brief öffentlich. Über die große Not einer Athletin und eine vernachlässigte Seite des Sports.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: