Süddeutsche Zeitung

Olympische Spiele 2021:Regenbogen ja, aber nur ein bisschen

Noch vor wenigen Jahren galt beim IOC sogar Trauerflor als politische Propaganda - jetzt erkämpft die deutsche Hockey-Kapitänin Nike Lorenz eine Kehrtwende. Aber die neue Freiheit gilt nicht für alle.

Kommentar von Claudio Catuogno, Tokio

Wenn man die Hälfte eines mühsamen Weges gegangen ist, hat man zwei Möglichkeiten: Man kann sich darüber freuen, über wie viel Geröll man es schon geschafft hat. Oder darüber klagen, wie viel noch vor einem liegt. Nike Lorenz, die Kapitänin der deutschen Hockeyspielerinnen, hat sich für die Freude entschieden nach ihrem Marsch durch das sportpolitische Dornengestrüpp: Es fühle sich "unglaublich gut an", sagte sie, "meinen Mitspielerinnen den Raum verschafft zu haben, den sie sich verdienen - love always wins".

Liebe gewinnt immer, damit hat Nike Lorenz schon selbst die Brücke geschlagen von der Fußball-EM neulich zu Olympia jetzt in Tokio. Vom deutschen Torwart Manuel Neuer und seinem Kollegen Leon Goretzka, der den homophoben Gesängen ungarischer Fans ein Herz entgegengesetzt hatte, zu einer Entscheidung des Internationalen Olympischen Komitees: Ja, entschied das IOC, Nike Lorenz darf in Tokio - wie Neuer bei der EM - eine Regenbogenbinde tragen.

Auch während der Partien, nicht nur verschämt beim Aufwärmen und im Bus. Der Regenbogen, hatte Lorenz kürzlich der FAZ gesagt, stehe für sie für "die Freiheit, einzelne Menschen und ihre Diversität zu akzeptieren" - ein Anliegen, das sie mit dem gesamten Team teile.

Diese Spiele haben drängendere Probleme als mündige Athleten, die sich für universale Werte einsetzen

Man kann natürlich der Meinung sein, dass diese Olympischen Spiele, die am Freitag mitten in Tokios Corona-Notstand hinein eröffnet wurden, drängendere Probleme haben als "schon wieder" die Regenbogenfrage. Tatsächlich ist es aber andersrum: Diese Spiele haben drängendere Probleme als mündige Athleten, die sich aktiv für universale Werte einsetzen. Aber auch auf dem Weg zu dieser Erkenntnis ist das IOC irgendwo in der Mitte steckengeblieben.

Man erinnert sich an Sotschi 2014: Da waren vier Langläuferinnen mit schwarzen Armbinden angetreten, um des kurz vor den Winterspielen verstorbenen Bruders eines Teammitglieds zu gedenken. Trauerflor ist keine Propaganda, darüber konnte es keine zwei Meinungen geben. Aber das IOC? Schickte eine schriftliche Rüge und verwies auf Regel 50.2 seiner Charta, die politische Meinungsäußerungen untersagte. Der Aufschrei war gewaltig.

Insofern muss man nicht annehmen, dass das IOC jetzt seine Leidenschaft für die Anliegen von LGBTQI*-Menschen entdeckt hat. Eher, dass der Druck zu groß wurde - frag nach bei der Uefa, die sich bei der EM in der Regenbogen-Frage wand und krümmte. Seine Regel 50.2 hatte das IOC schon vor den Spielen entschärft, nur den Wettkampf und das Siegerpodest wollte es noch frei halten von Freiheits- und Vielfalts-Botschaften aller Art. Auch das Niederknien vor dem Anpfiff, mit dem viele Teams ein Zeichen gegen Rassismus setzen, sei ja nicht verboten, hatte Präsident Thomas Bach klargestellt.

Auch in Tokio knien Athleten - aber das IOC wollte die Bilder nicht in seinen Social-Media-Kanälen

Wirklich ein Anliegen scheint all das den Funktionären aber auch nicht zu sein. Laut Guardian soll das IOC seine Social-Media-Teams zunächst angewiesen haben, keine Bilder von knieenden Sportlern zu posten; das soll nun doch geschehen. Und auch im Fall Nike Lorenz sprang wohl mancher eher kurzfristig auf die richtige Seite: Der Deutsche Olympische Sportbund etwa rühmte sich nun der gemeinsamen Initiative. Allerdings wies dann der Verein "Athleten Deutschland" darauf hin, dass man seit Monaten - auch beim DOSB - erfolglos auf eine Klärung gedrängt habe, was denn nun erlaubt sei und was nicht.

Und nun? Ist wieder ein Schritt getan. Vielleicht aber auch nur ein halber. Die Klarstellung im Hockey gilt nämlich keinesfalls für alle Tokio-Teilnehmer. Am Ende entscheiden die Verbände - und der Schwimmverband Fina hat bereits alle Statements am Pool verboten. Die Freiheit der Funktionäre, die Athleten zu gängeln - diese Freiheit heißen die IOC-Regeln weiterhin ausdrücklich gut.

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