An manchen Tagen hat Gina Lückenkemper am Kanal in Bamberg Hantelscheiben durch die Gegend gezogen, zur Belustigung mancher Passanten. 2020 war für die Sprinterin ein Jahr der Improvisation: Aus Clermont in den USA, wo sie sich mit neuem Trainer fit für Olympia machen wollte, wurde sie von der Pandemie vertrieben, Lückenkemper strandete wieder in Deutschland. Sie trainierte allein mit den Plänen aus den USA, ging im Februar dieses Jahres zurück, wurde früh geimpft. Sie lief wieder Rennen - doch keines davon hat nun für einen Startplatz im Olympia-Team gereicht.
Leichtathletik:Für Astrophysiker und Mathematiker
Der Weg vieler Leichtathleten zu den Sommerspielen ist ohnehin beschwerlich. Eine neue Weltrangliste verkompliziert die Sache - das erzählt auch einiges über die Probleme der olympischen Kernsportart.
Bei einem Wettkampf im Mai in Boston spürte sich nach den ersten Schritten Probleme im Oberschenkel, Muskelfaserriss war dann die Diagnose, es folgten ein paar Wochen Reha. Erst am Dienstag, dem letzten Tag des Nominierungszeitfensters, bestritt sie wieder einen Wettkampf über 100 Meter: 11,53 Sekunden. Das war weit weg von der Olympianorm von 11,15 Sekunden. Am Samstag hat der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) die Liste der Tokio-Teilnehmer erweitert, Lückenkemper ist nur als Ersatzfrau dabei. Das Bangen um Olympia, das ist so ein Gefühl, das sich in diesem Jahr auch bei jenen Leichtathleten manifestiert hat, die in anderen Zeiten sicher gesetzt waren.
Lückenkemper darf mit einsteigen in den Flieger, ist aber nur Touristin, sofern sich keine der anderen verletzen sollte, die sie in diesem Jahr über 100 Meter überholt haben: Alexandra Burghardt, Lisa Mayer und Tatjana Pinto. Es ist ein Rückschlag für Lückenkemper, die zum Aushängeschild der Leichtathleten in den vergangenen Jahren emporgestiegen war, vor allem mit den 10,95 Sekunden, die sie bei der WM 2017 auf die Bahn in London gezaubert hatte, die zweitschnellste Zeit einer Deutschen seit Katrin Krabbe 1991. Im nationalen Ranking stehen viele nun vor ihr. Auch ihre Freundin Rebekka Haase, die über 200 Meter zwar nominiert ist, aber über die halbe Distanz auf besonders unglückliche Weise scheiterte: Fünf Mal knackte sie zwar in diesem Jahr die Norm, fünf Mal war jedoch zu viel Wind im Spiel.
Konstanze Klosterhalfen ist nur ein Rennen gelaufen - im Februar
Während man bei der Sprinterin herleiten kann, wo die Probleme liegen - ähnlich wie bei Kugelstoßer David Storl und Speerwerfer Thomas Röhler, die die Spiele ganz verpassen -, bleibt der Leistungsabfall von Christoph Harting mysteriös. Auch er ist nur als Ersatz für Tokio vorgesehen. Auf sein Überraschungsgold 2016 im Diskuswurf in Rio mit 68,37 Metern folgten eine verpasste WM 2017, ein Scheitern in der Qualifikation bei EM 2018 und WM 2019 - und nun steht seine Bestleistung in diesem Jahr nur noch bei 65,40 Metern, das ist Platz 28 in der Weltrangliste. Die Kollegen Daniel Jasinski, Clemens Prüfer und David Wrobel sind an ihm vorbeigezogen. "Die Situation, in der er im Moment steckt, ist auf jeden Fall nicht unerheblich", sagte Bundestrainerin Annett Stein bei den deutschen Meisterschaften in Braunschweig Anfang Juni und deutete Probleme im Privatleben an. Interviews gibt Harting seit fast zwei Jahren keine mehr.
Still geworden ist es auch um Lauftalent Konstanze Klosterhalfen: Für die 24-Jährige steht lediglich ein Rennen in diesem Jahr in der Statistik: Ende Februar lief sie in Austin in Texas erstmals 10 000 Meter - und das in 31:01,71 Minuten. Das war deutscher Rekord, mehr hat man danach nicht mehr von ihr zu Gesicht bekommen. Abgesehen von Fotos auf Instagram. Auch sie war wie Lückenkemper zur Reha in Salzburg, ganz in der Nähe des Hauptquartiers ihres Sponsors. Wegen Rückenbeschwerden musste sie die deutschen Meisterschaften Anfang Juni absagen. Im vergangenen Jahr musste sie wegen einer Überlastungsreaktion im Becken ihre Saison vorzeitig beenden . Mittlerweile trainiert sie wieder.
Vor zwei Jahren wurde Klosterhalfen WM-Dritte über 5000 Meter, nachdem sie sich dem mittlerweile aufgelösten Nike Oregon Projekt angeschlossen hatte. Unter Pete Julian trainiert sie immer noch, unter dem US-Coach, der jahrelang als Vertrauter des Doping-gesperrten Alberto Salazar galt. Für Tokio ist Klosterhalfen nur über die 10 000 Meter nominiert. Es gehe ihr gut, versichert ihr Management, der Deutsche Olympische Sportbund schickt sie laut Pressemitteilung "mit sehr guten Aussichten an den Start" in Tokio.
Malaika Mihambo, Niklas Kaul: Medaillenkandidaten gibt es trotzdem
Dennoch bleiben auch nach der Nominierung des Olympia-Kaders Fragen offen. Was nicht bedeutet, dass es nicht auch Grund für Optimismus gibt: Speerwerfer Johannes Vetter und Disziplin-Kollegin Christin Hussong fahren tatsächlich mit besten Voraussetzungen nach Tokio, auch Weltmeisterin Malaika Mihambo hat sich zuletzt in der Weitsprunggrube gesteigert. Zehnkämpfer Niklas Kaul, jüngster Weltmeister der Geschichte, feilt noch an seiner Form, hat bis zum Start am 4. August aber noch ein paar Wochen Zeit.
Das gleiche gilt für Siebenkämpferin Carolin Schäfer, die, gebeutelt von der Reaktion auf ihre Corona-Impfung, zuletzt Wettkämpfe absagen musste. Die Trainingsleistungen der WM-Zweiten von 2017 haben laut Idriss Gonschinska, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), aber "eine klare Tendenz nach oben" gezeigt, die Norm hatte sie bereits 2019 erfüllt. Und da im Siebenkampf die Konkurrentinnen im Land nicht gerade Schlange stehen, muss sich Schäfer keine Sorgen um ihre Tokio-Teilnahme machen.