Eine kleine Insel, kaum so groß wie Hamburg, hat jetzt eine Olympiasiegerin, und natürlich verbreitete sich ein Video von den Feierlichkeiten über die sozialen Netzwerke rasch in der digitalen Welt. Samstagabend, kurz vor 21.30 Uhr: Da flitzt Julien Alfred, 23 Jahre alt, über die lila Bahn im Stade de France – und einen Ozean entfernt, auf St. Lucia, einer Insel im Atlantik, kreischen Menschen, liegen sich in den Armen, laufen mit aufgerissenen Augen vor der Leinwand hin und her.
Olympiasiegerin über 100 Meter, das waren seit 2008 immer Jamaikanerinnen gewesen, und für Paris hatten viele eine andere im Blick. Allerdings nicht Alfred, die in 10,72 Sekunden ins Ziel preschte, voller Adrenalin einfach noch einmal 100 Meter weiter lief – und sich schließlich die Tränen aus dem Gesicht wischte.
Am Morgen vor ihrem Rennen, so erfährt man später, hatte Alfred ein Prozedere mit weitreichenden Folgen vollzogen: Sie schrieb in ihr Notizbuch „Julien, Olympiasiegerin“. Da stand es also schon mal schwarz auf weiß, und wenn man es lesen kann, kann man es ja auch werden. Oder nicht? Alfred studierte dann jedenfalls noch sämtliche Rennen von Usain Bolt. „Ich habe mir angesehen, wie er es gemacht hat“, sagte sie später; mit den Lauf-Shows des Jamaikaners war sie groß geworden.
Im vergangenen Winter war Alfred bereits Hallenweltmeisterin über die 60 Meter geworden, im Vorjahr WM-Fünfte in Budapest. „Es bedeutet so viel für mich, für meinen Trainer und mein Land“, sagte sie nun in Paris, „die feiern das jetzt bestimmt.“ 180 000 Einwohner leben auf der Insel, eine Olympiamedaille hatte das Land noch nie gewonnen. Bis zu diesem Samstag.
Verspätung oder Verletzung? – Fraser-Pryce tritt im Halbfinale nicht an
Als Favoritinnen für den Titel der schnellsten Frau der Welt hatten in Paris freilich andere gegolten: Allen voran Sha’Carri Richardson, die Weltmeisterin von Budapest. Und, im Schatten der Amerikanerin, auch Shelly-Ann Fraser-Pryce, Inhaberin von acht olympischen Medaillen, darunter drei goldene. Aber als die Athletinnen vor dem Halbfinale zur Bahn im Stade de France gerufen wurden, blieb ihr Platz leer. Am Vortag war Fraser-Pryce noch in 10,92 Sekunden ins Halbfinale gesprintet, mit einer 185 000 Dollar teuren Uhr am Handgelenk, wie kundige Internetrechercheure herausfanden. Die Jamaikanerin liebt den exzentrischen Auftritt. Die Gründe für ihr späteres Fernbleiben blieben dann nebulös.
Auf Videos in den sozialen Netzwerken ist zu sehen, wie sie sich vor den Toren des Aufwärmbereichs darüber beschwert, nicht hereingelassen zu werden. Sie erwähnt eine plötzliche Regeländerung, wonach man nur im Teambus anreisen könne, nicht aber, wie es offenbar Fraser-Pryce vorhatte, auf privatem Weg. Medienberichten zufolge soll sie erst mit Verspätung eingetroffen sein. Ihr Trainer wiederum sagte, sie habe sich auf dem Aufwärmplatz verletzt. Auch ihre Teamkollegin Shericka Jackson hatte für die 100 Meter absagen müssen, sie zog am Sonntag auch über die 200 Meter zurück.
Gina Lückenkemper wäre lieber 105 Meter gerannt statt 100
Für Gina Lückenkemper war im Halbfinale mit 11,09 Sekunden Endstation – nur 0,02 Sekunden trennten sie von ihrem großen Traum. „Heute war es sauärgerlich“, sagte die 27-Jährige. Die letzte Deutsche, die es in den Olympiaendlauf über 100 Meter geschafft hat, war Heike Drechsler 1988. Ende Juni war Lückenkemper bei den deutschen Meisterschaften in 11,04 Sekunden zum Titel gesprintet, das hätte nun für den Endlauf gereicht. Doch wie so oft war sie mit ihrem Start spät dran und holte trotz eines tollen Endspurts nicht mehr entscheidend auf. „Es wäre schön gewesen, wenn es heute 105 Meter gewesen wären statt 100 Meter“, sagte sie. Rebekka Haase war im Vorlauf in 11,28 Sekunden ausgeschieden. Sha’Carri Richardson gewann im Finale hinter Alfred zumindest Silber (10,87), Bronze ging an Richardsons Teamkollegin Melissa Jefferson (10,92).
Julien Alfred, die neue Olympiasiegerin, trainierte bis Ende vergangenen Jahres noch in Austin, am selben College wie Leo Neugebauer. „Sie verdient es so sehr, sie ist so ein guter Mensch vom Herzen und ich kann es kaum erwarten, ihr eine große Umarmung zu geben“, sagte Neugebauer nach seinem Zehnkampf. Alfred selbst dankte Gott und ihrem Vater, den sie 2013 verloren hatte. Da war sie zwölf Jahre alt, hatte den Sport zunächst aufgegeben. „Er wäre so stolz auf mich“, sagte sie. Und tatsächlich inspirierte Alfred mit ihrer Geschichte andere Athleten, Dreispringerin Thea Lafond etwa, die am Sonntag Gold für Dominica gewann, das Land ist nur zwei Inseln von St. Lucia entfernt. „Ich habe gesehen, wie sie Gold in der Halle gewonnen hat und dachte: Ich werde auch Gold gewinnen“, sagte Lafond nach ihrem Erfolg. Auch sie nutzte, wie Alfred, ein College-Stipendium in den USA, an der University of Maryland.
Vor ihrer Zeit in Austin hatte Alfred einige Jahre als Teenagerin auf Jamaika gelebt und trainiert. Als Kind war sie teilweise ohne Schuhe und in ihrer Schuluniform gerannt, so knapp waren die Mittel. „Ich hoffe, die Goldmedaille führt dazu, dass in St. Lucia ein neues Stadion gebaut wird“, sagte Alfred in Paris. Für ausreichend Laufbegeisterung hat sie auf jeden Fall gesorgt.