Staffelrennen bei Olympia:Vier Top-Sprinter ergeben noch kein Team

Athletics - Men's 4 x 100m Relay - Round 1

Die US-Staffel läuft hinterher: Hier Schlussläufer Cravon Gillespie gegen den Chinesen Wu Zhiqiang.

(Foto: Lucy Nicholson/Reuters)

Die US-Staffel verpasst über 4x100-Meter überraschend das Finale, Wechsel hat sie vorher praktisch nicht geübt. Die Deutschen zeigen, wie man ein Kollektiv formt.

Von Saskia Aleythe, Tokio

Es hätte nicht viel gefehlt und Fred Kerley hätte Ronnie Baker beim Wechsel auch noch überholt. Vielleicht steckt das in der Natur der Sprinter, aber bei einem Staffelrennen ist das ungünstig: Möglichst reibungslos soll der Stab von einer Hand in die andere gleiten, der startende Athlet in seiner Beschleunigung nicht aufgehalten werden. Doch die beiden US-Amerikaner zeigten am Donnerstagmorgen in Tokio eine ungelenke Aufführung, als würde jemand zwei sehr nervöse Menschen beim ersten Date mit einer Kamera begleiten. Baker musste den Arm einknicken und den Ellbogen auf Höhe der Ohren ziehen, um den Stab vom heranrauschenden Kerley zu übernehmen - es glich fast einem Wunder, dass Baker sich nicht verletzte. Das schockierende Ergebnis für die hoch gehandelte 4x100-Meter-Staffel der USA: Das Team verpasste das Finale.

Startläufer Trayvon Bromell ist in diesem Jahr noch immer mit der schnellsten Zeit über 100 Meter in den Statistiken notiert (9,77 Sekunden), auch Kerley und Baker sind erfahrene Athleten: Beide standen in Tokio im Finale über 100 Meter, Kerley gewann Silber, Baker wurde Fünfter. Ihr Wechsel im Vorlauf war nun wieder ein Sinnbild dafür, warum die Amerikaner mit den Staffeln seit 2000 immer wieder Dramen erleben. Wie oft sie gemeinsam als Team geübt hatten, wurden sie im Anschluss gefragt. Kerley: "Kann ich nicht sagen." Baker: "Nicht viel." Schlussläufer Cravon Gillespie druckste ebenso herum, schließlich sagte er dem Sender NBC: "Seit zwei Tagen."

Bis zum Jahr 2000 haben die USA 15 von 18 vergebenen Goldmedaillen in der Sprintstaffel gewonnen, doch in der Szene ist es schon lange kein Geheimnis mehr, dass es an einem richtigen System mangelt, die Läufer auf die Rennen bei Olympia vorzubereiten. "Die Staffel funktioniert halt nicht so: Man nimmt die schnellsten vier Läufer und stellt sich bei Olympia hin und übt die Wechsel. Da kann immer was passieren", sagte der deutsche Startläufer Julian Reus, der sich mit den Kollegen als Gesamtsechster für den Endlauf am Freitagabend qualifizierte.

Reus, Joshua Hartmann, Deniz Almas und Lucas Ansah-Peprah wurden in ihrem Lauf Vierte (38,06 Sekunden), die USA nur Sechste (38,10), sogar Ghana rutschte noch dazwischen (38,08). Schlussläufer Gillespie verlor im Endspurt noch drei Positionen, und doch war es die mangelnde Wechselpraxis, die am meisten schmerzte. "Eine absolute Peinlichkeit", twitterte Carl Lewis, der selbst zwei Mal Olympiasieger mit den Staffeln war, wobei er wohl weniger den Auftritt der Sportler als die Umstände und die Positionierung der Läufer meinte. Baker, der als 100-Meter-Fachkraft nur Läufe auf der Geraden kennt, musste an dritter Stelle übernehmen, also die Kurve bewältigen. "Er sieht aus, als würde er auf Eis laufen", sagte Lewis der Zeitung USA Today.

Die deutschen Sprinter leben den Teamgedanken

Um ein Kollektiv zu werden, braucht es nun mal Zeit. Und die Deutschen haben diese für ihre Staffeln aufgebracht, was sich nun auch in Tokio als kluge Investition herausstellte. "Ich habe das ganze Jahr mit den Jungs zusammen trainiert und das hat man, glaube ich, auch gesehen", sagte Joshua Hartmann. Der 22-Jährige war vor zwei Wochen erst für den verletzten Niels Torben Giese nachgerückt. Die Trainer der besten Sprinter im Land tauschen sich regelmäßig aus, "es wird alles ein gemeinsamer Topf", hatte Marvin Schulte beim letzten Klassentreffen vor Olympia in Regensburg gesagt. Er trat seinen Staffelplatz wenige Stunden vor dem Rennen in Tokio an Lucas Ansah-Peprah ab. "Es zeugt von Größe von Marvin, heute früh zu sagen: Ich bin nicht komplett bei 100 Prozent", sagte Reus, "das ist genauso stark wie die Leistung an sich. Dass Marvin die Eier hat, so eine Entscheidung zu treffen, mit 22." Mit dem Fehlen der Amerikaner ist sogar die Chance auf eine Medaille für das deutsche Quartett gestiegen. "Wenn man die Zeiten gesehen hat, mit denen man ins Finale gekommen ist, ist es doch sehr eng", sagte Deniz Almas, "dementsprechend ist morgen alles möglich."

Tokio 2020 - Leichtathletik

Doch noch der Olympia-Moment für Gina Lückenkemper: Die Zeit mit der Staffel reicht fürs Finale.

(Foto: Michael Kappeler/dpa)

Als Ersatzläufer für die Olympischen Spiele nominiert zu werden, kann eine undankbare Rolle sein. Doch auch bei den deutschen Frauen offenbarte sich der Wert des Teamgedankens: Durch den Ausfall von Lisa Mayer und Lisa Nippgen im Vorbereitungstrainingslager in Miyazaki ist Gina Lückenkemper in Tokio doch nicht zum Zuschauen verdammt. Die 24-Jährige hatte sich bei ihrem ersten Saisonrennen verletzt und konnte dann die Norm für den Einzelstart nicht erfüllen. In Tokio brachte sie ihr Team nach Startläuferin Rebekka Haase, Alexandra Burghardt und Tatjana Pinto als Gesamtdritte (42,00) ins Finale. "Es war für mich super schön, nach diesen Wochen die Chance zu bekommen", sagte sie, dachte aber auch an ihre Kolleginnen, die schon wieder nach Deutschland reisen mussten. "Die Verletzungen waren super unglücklich, das tut uns nach wie vor leid. Aber das ist halt auch der Sport. Mal gewinnt man, mal verliert man."

2016 in Rio hatte sie mit Pinto, Mayer und Haase mit Platz vier eine Medaille knapp verpasst. 2017 bei der WM in London sogar noch knapper, zwei Jahre später in Doha wurde es Rang fünf. Immer nah dran also. "Ich glaube, dass wir das Potenzial haben für eine Medaille", sagte Lückenkemper, "im Finale heißt es dann: Einer für alle, alle für einen." Der Teamgeist stimmt schon mal.

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