Gold im Skilanglauf:Schieb, schieb, schieb!

Gold im Skilanglauf: Fast ungläubig: Katharina Hennig (rechts) ist außer sich, weil ihre Staffelpartnerin Victoria Carl den Schlussspurt gegen die vermeintlich stärkere Konkurrenz gewonnen hat.

Fast ungläubig: Katharina Hennig (rechts) ist außer sich, weil ihre Staffelpartnerin Victoria Carl den Schlussspurt gegen die vermeintlich stärkere Konkurrenz gewonnen hat.

(Foto: Michel Cottin/Agence Zoom/Getty)

Bei ihrem überraschenden Gold-Coup im Teamsprint zeigen Victoria Carl und Katharina Hennig eine überlegene Taktik, eine großartige Schlussoffensive - und rühren damit sogar ihren erfahrenen Coach zu Tränen.

Von Volker Kreisl

Langlauf ist ein vielseitiger Sport, man muss sich nur Victoria Carl anschauen. Sie ist schon lange dabei, versteht es, im Parallel- wie im freien Stil schnell zu sein, und ist eine gute Allrounderin. Carl liebt eher die langen Strecken, aber auch den Kampf auf der Zielgeraden, genauer: den Doppelstockschub.

Nun stand der Teamsprint bevor, das vorletzte Rennen im Pekinger Langlaufprogramm, und kurz vor dem Ende, nach einer knappen Stunde Wettkampf mit ihrer Partnerin Katharina Hennig, so sagte sie später, sei ihr Kopf ganz leer gewesen. Denn die Konzentration hatte sich verdichtet auf dieses einzige in diesem Moment noch relevante Ziel: Die Linie da vorne, in etwa 150 Metern Entfernung. Am Ende dieses Sprinttages, da blieb nur noch ein Befehl übrig: "Schieb! Schieb! Schieb!"

Dann übernahm sie die Hauptrolle in einer Schlussszene, die für den Deutschen Skiverband in den kommenden Jahren noch als Motivationshilfe herumgereicht - und vielleicht auch stellvertretend für den Olympiaauftritt von Team Germany immer wieder gezeigt werden könnte. Es ist der Schlussakt einer Dokumentation, die darlegt, dass Sportlerinnen und Sportler manchmal ihre vermeintlich unverrückbaren Grenzen durchbrechen können, und zwar schrittweise in einem Wettbewerb, bis sie das erreichen, woran sie selbst niemals geglaubt hatten, nämlich Gold.

Es folgt ein emotionaler und auch protokollarischer Ausnahmezustand

"Man sollte keine zu großen Erwartungen haben", das hatte Teamchef Peter Schlickenrieder noch am Dienstag dem Fach-Portal xc-ski.de gesagt, "mit Top acht wäre schon viel geschafft." Dann gewannen sie die Qualifikation, behaupteten sich im Rennen in den Positionskämpfen, sicherten gar den Bronzeplatz, ehe Carl den Kopf ausschaltete und drauflos schob. Sie hat die optimale Körpergröße von 178 Zentimetern, die optimale Bein- und Armlänge und die idealen Hebel für diese Art Schlussspurt. Der Oberkörper klappt hoch und runter in immer schnellerer Taktung, als wäre er von Batterien angetrieben.

Katharina Hennig, die zweite, nominell bessere Läuferin dieses kleinen Teams, hatte als Startläuferin schon ihre Arbeit erledigt und wartete und bangte im Ziel. Irgendwann, als es letztmals um die Kurve ging, war jedoch klar, dass den Deutschen eine Medaille nicht mehr zu nehmen war, aber beruhigend war's dennoch nicht, denn nun drehte Carl ihren Doppelstockschub erst recht auf - und aus der Angst etwas zu verlieren, wurde die Aufregung, ja Hysterie, etwas zu gewinnen, das nun alle zunächst überfordern würde.

Gold im Skilanglauf: Gestatten, zwei Olympiasiegerinnen, mit denen kaum jemand gerechnet hatte, obwohl man ihnen eine gute Form attestiert hatte: Katharina Hennig (links) und Victoria Carl.

Gestatten, zwei Olympiasiegerinnen, mit denen kaum jemand gerechnet hatte, obwohl man ihnen eine gute Form attestiert hatte: Katharina Hennig (links) und Victoria Carl.

(Foto: Odd Andersen/AFP)

Zentimeter um Zentimeter zuckten Carls Skispitzen an jenen der Russin Natalia Neprjajewa vorbei, und als sie dann auf Höhe der führenden Schwedin Jonna Sundling angekommen war, da schoben sie sich auch an der vorbei, und aus der Dynamik und der Wucht, mit der Carl das Feld aufrollte, wurde plötzlich deutlich: Es sind nur noch vier, fünf Meter, ihr Schwung bleibt konstant: das wird wirklich Gold.

Nicht nur für Hennig und Carl, die im Ziel mit verzerrten Gesichtern die Lage offenbar noch nicht begriffen und sich erst mal umarmten, sondern für alle deutschen Mitarbeiter galt nun ein emotionaler und auch protokollarischer Ausnahmezustand. Ihr Heimtrainer aus Thüringen begann nach dem ersten Jubel zu schwanken und versuchte, aus seiner Aufenthaltszone in Richtung Zielraum zu gelangen. Auch die anderen Betreuer, die Wachser, medizinischen Helfer, wer auch immer da war, eilte dorthin, und der Gesamtverantwortliche Schlickenrieder - er heulte vor Glück.

Das darf man wohl einfach so hinschreiben, weil Schlickenrieder selbst kein Aufhebens darum macht, dass er nun mal nah am Wasser lebt, vor allem dann, wenn's schon wieder historisch wird. Dies war der vorläufige Gipfel seiner bislang vier Jahre dauernden Amtszeit als Verantwortlicher für eine schwierige Aufgabe - die Wiederbelebung des deutschen Spitzenlanglaufs. Dessen Grundlage, der Schnee, ist keine Selbstverständlichkeit mehr in Mitteleuropa, umso wichtiger für die Zukunft sind Tage wie diese in Peking.

In fünfeinhalb von sechs Runden versteckten sich die Deutschen, bis klar wurde: Dahinter verbarg sich ein Plan

Die Langlauf-Bilanz übertrifft nun alles, worauf man vorab gehofft hatte. Die Männer verzeichneten einzelne Erfolge, etwa Rang fünf in der Staffel. Auch die Plätze von Hennig (5.) und Katherine Sauerbrey (11.) im 10-km-Klassisch-Rennen zählen dazu. Dann holte die Frauenstaffel Silber, ebenfalls eine Herausforderung für alle, die Glück mit Tränen verarbeiten.

Es war die erste Olympiamedaille seit acht Jahren, aber sie war auch ein bisschen eingeplant, dringend nötig als Zeichen dafür, dass Schlickenrieders Konzept greift. Er will keine gestählten und nach Chefplänen fremdgesteuerten Sportler, sondern er setzt auf das Prinzip der Eigenmotivation. Und nun also zudem das, was niemand geplant hatte: Langlauf-Gold gab es für den deutschen Verband seit zwölf Jahren nicht.

Wer seine Tränen nicht verbirgt, sondern dies wie Schlickenrieder live im Fernsehen auch hinnimmt, der hat Selbstbewusstsein. "Ich könnte den ganzen Tag heulen", kapitulierte er in der ARD, was vielleicht damit zusammenhing, dass an diesem Mittwoch viel von der Saat der neuen Langlauf-Führung im DSV aufgegangen war, auch wenn zunächst ein kleiner Rückschlag vermeldet wurde.

Katherine Sauerbrey, 24, die eigentlich nominiert war, erkannte am Abend zuvor, dass ihre Kräfte für einen dritten Olympiawettkampf nicht reichten. Für das im klassischen Stil durch gefräste Loipen führende Rennen wäre sie die ideale Besetzung mit der zweiten Parallel-Spezialistin Hennig gewesen. Es half nichts, Sauerbrey fühlte sich schwach, es liefen Carl, 26, und Hennig, 25, und nun kam es in erster Linie auf die Ersatzläuferin an. Würde sich Carl in ihre Rolle fügen, würde sie ihre drei Runden der insgesamt sechs Schleifen so durchziehen, wie es die Taktik vorsah, und wie es Schlickenrieder den beiden klargemacht hatte?

Als er später seine heftige Rührung erklärte, sagte er, alles sei so "intensiv" gewesen. Denn mehrere Handlungsstränge verflochten sich während des Rennens ineinander: die Aktionen der sprintenden Favoritinnen aus Finnland, Schweden, Russland und den USA; der Auftritt Hennigs, die seit Jahren den Langlauf-Aufstieg mitzieht; die neue Taktik, die sich die Trainer ausdachten; und vor allen die Frage, was wird Victoria Carl machen?

"Da macht die Vicki das, was sie noch nie gemacht hat", lobte Schlickenrieder, "nämlich taktisch ein exzellentes Ding!"

Sie, die eher intuitive, ungestüme Läuferin schien sich zu verstecken. Carl klemmte sich gleich in ihrer ersten Runde in die Mitte der acht Konkurrentinnen, wo sie nicht nach vorne, nicht zur Seite auskam, sondern sich nur zurückfallen lassen konnte. Und beim letzten Anstieg vor der Zieldurchfahrt war Carls Position derart miserabel, dass Hennig mühsam den Rückstand wieder zulaufen musste. Fünfeinhalb von sechs Runden lang ging das so, bis klar wurde: Dahinter steckte ein Plan.

Gold im Skilanglauf: Zu Tränen gerührt: Langlauf-Bundestrainer Peter Schlickenrieder.

Zu Tränen gerührt: Langlauf-Bundestrainer Peter Schlickenrieder.

(Foto: Sebastian Kahnert/dpa)

Schlickenrieder hatte da längst erkannt, dass alle Sorgen um eine verschenkte Medaille unbegründet waren, was aber das Intensivste für ihn war, das könnte der Auftritt seiner Ersatzläuferin gewesen sein: "Da macht die Vicki das, was sie noch nie gemacht hat, nämlich taktisch ein exzellentes Ding!", sagte er. Und in seiner nun ungebremsten oberbayerischen Leidenschaft fuhr er fort: "Was ihr wahrscheinlich keiner zugetraut hatte! Wo jeder g'sagt hat, die rennt den ersten Berg hoch und ist dann blitzeblau!" - Jetzt aber: "Zieht die Vicki in einer Weltklassemanier dieses Rennen durch, dass'd sagst: Chapeau!"

Womöglich wurde Victoria Carl allseits mehr unterschätzt als gedacht. Sie hielt sich nicht nur an den Plan, sondern offensichtlich täuschte sie - als sie kurz mal zurückfiel - auch ein bisschen die Gegnerinnen. Eine eigene Taktik, ein Ziel hatte sie jedenfalls von vorneherein ihrer Sprint-Partnerin anvertraut: "Ich habe vorher noch zur Katha gesagt: Auf der Zielgeraden zerstöre ich sie." Sie meinte die Gegnerinnen, weil, jeder weiß es jetzt: "Schieben kann ich, das ist meine Stärke."

So hatten die beiden das Ideal in einem Sprint erreicht, sie wurden zu einer Einheit, die taktisch und psychologisch ineinander greift. Auch Hennig, so war es vorgesehen, sollte in ihren drei Einsätzen Victoria Carl wieder an die erste Stelle bringen, was immer wieder an die Kapitänshelfer bei der Tour de France erinnerte. Dreimal hängte sich Hennig eher hinten in die Achterkette ein, schlängelte sich durch die Lücken, lief am Anstieg rechts außen vorbei, und dreimal übergab sie an Carl auf einer der vorderen Positionen.

Bis diese nach der Hälfte der letzten Runde, an einem außergewöhnlichen Olympiatag, an dem nebenbei der tief gerührte Teamchef Schlickenrieder Geburtstag feierte, bis also Carl endlich auf und davon laufen durfte, um vor dem Ziel zu zeigen, was sie kann: Schieben, schieben, schieben.

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