Nach den Spielen ist vor den Spielen, in Zeiten wie diesen erst recht. Weil Tokio 2020 wegen der Pandemie ein Jahr nach hinten geschoben und zu Tokio 2021 wurde, ist die zeitliche Distanz zu Peking 2022 außergewöhnlich kurz. Am 4. Februar nächsten Jahres ist Eröffnungsfeier der Winterspiele in der chinesischen Hauptstadt. Und auch, wenn es komplizierte und überaus fragwürdige Spiele unter Social-Distance-Bedingungen in Japan waren, eine Begegnung der Welt ohne Zuschauer: Peking wird schlimmer.
Die Spiele in Tokio waren immerhin spürbar Spiele im freien Teil der Welt, und es hat seinen Wert, wenn man bei der Bilanz einer sportlichen Großveranstaltung nicht noch mal aufzählen muss, wie viele Menschen bei der Vorbereitung gestorben oder umgesiedelt worden sind - oder wer alles ins Gefängnis gekommen ist, weil er etwas gesagt hat, was einem Regime nicht gefällt. Und wenn es nur ein paar Worte gegen Funktionäre sind.
Geheimdienste:Keine Sicherheit. Nirgends
Es ist nicht wirklich ungewöhnlich, dass autokratische Regime auch in fremden Ländern Gegner entführen oder töten lassen. Doch was in Tokio geschehen ist, hat eine neue Dimension.
Als während der Spiele in Tokio die Sprinterin Kristina Timanowskaja wegen Kritik an Funktionären von belarussischen Offiziellen zum Flughafen verschleppt wurde, um zur Heimreise gezwungen zu werden, fand sie zunächst Unterschlupf bei der Tokioter Flughafenpolizei und wurde nicht an den belarussischen Autokraten Lukaschenko ausgeliefert. Wie hätte sich, in ähnlichem Fall, die Polizei und Staatsmacht im autokratischen China verhalten?
Die Menschenrechtslage in China hat sich seit Peking 2008 nicht entspannt, sondern verschärft
Nein, die Spiele in Tokio 2021 waren nicht die größte Herausforderung für das Internationale Olympische Komitee (IOC): Unter einer Pandemie leiden alle, leidet die Welt - und darauf kann man sich dann auch immer gut herausreden. Die Spiele 2022 in Peking werden die größere Herausforderung, sie sind nicht wie eine Heimsuchung über die Oberolympioniken gekommen. Niemand hat sie gezwungen, die Olympischen Spiele nach 2008 zum zweiten Mal in ein Land zu vergeben, dem Menschenrechte wenig bedeuten; in dem es Folter gibt, Umerziehungslager, Unterdrückung von Minderheiten in Tibet und Xinjiang, Einschränkung der Meinungsfreiheit, Knebelung der Demokratie in Hongkong.
Peking sollte sich öffnen nach den Sommerspielen 2008, das war die gewohnt großspurig formulierte Mission des sich chronisch selbst überschätzenden IOC, dabei war Peking schon damals nicht mal bereit, die geringstmöglichen Zugeständnisse an die erwartete Offenheit zu machen. Selbst im Pressezentrum war das Internet zensiert während Olympia. Eine Petitesse, aber eine bezeichnende. Und was die langen Linien angeht, hat sich die Menschenrechtslage seitdem nicht entspannt, sondern verschärft.
Das IOC und sein Präsident Bach können sich nicht länger vor unangenehmen Fragen wegducken
Das ist der Unterschied zur Politik: die kann China, den Big Player, nicht einfach aus allem raushalten. Aber dass die Olympier ausgerechnet Peking die Ehre zugestanden haben, die erste Stadt auf dem Planeten zu sein, die nach den Sommerspielen auch die Winterspiele austragen darf - das ist ein furchtbares Signal, zynisch.
Bei seiner Bilanzpressekonferenz in Tokio mochte IOC-Chef Thomas Bach zu Peking nicht mal zartere Fragen beantworten, aber selbst er wird sich mit der für ihn typischen Geschmeidigkeit des alten Fechters in den nächsten Monaten nicht wegducken können. Bei der Einordnung der Gräueltaten gegen die Uiguren wird international schließlich auch der Begriff Genozid gebraucht. Zu sagen, dass Peking als Gastgeber umstritten wäre, hieße also, die Wahrheit zu ummänteln. Bisher galt die Fußball-WM im damaligen Folterknecht-Land Argentinien 1978 als größter Sündenfall in der jüngeren Geschichte der Vergabe von Sportveranstaltungen. Einige Sündenfälle später ist das IOC bei Peking 2022 angekommen, das es mit Argentinien 1978 mehr als aufnehmen kann.
Bei der Schlussfeier in Tokio wurde die olympische Flagge an eine Gesandtschaft aus der ferneren Zukunft überreicht, die Delegation aus Paris, Gastgeberstadt der Sommerspiele 2024. In der näheren Zukunft, die an diesem Montag beginnt, kommen härteste Debatten auf Olympia zu.