Die Menschen haben viele Fragen, wenn sie Aleksandra Miroslaw zum ersten Mal klettern sehen. „Wie macht sie das?“, zum Beispiel. „Wird sie gerade am Seil hochgezogen?“ Oder auch: „Gelten die Regeln der Schwerkraft auch für diese Frau?“ Sie sind alle berechtigt. Es gibt keine Frau auf der Welt, die so schnell die Wände hochsprinten kann wie die 30-jährige Polin. Dementsprechend reiste sie als Favoritin zu diesen Olympischen Spielen. Doch was dann passierte, überraschte selbst ihre Kontrahentinnen.
Gleich viermal brachte es Miroslaw, die mit Vornamen Ola genannt werden will, an den zwei Wettkampftagen der Speed-Kletterer fertig, ihren alten Weltrekord zu unterbieten. Der lag bei 6,24 Sekunden. Man muss sich das mal vorstellen: 6,24 Sekunden, um eine 15 Meter hohe Wand emporzuklettern, die kerzengerade in die Luft ragt. Wer jemals am Fuße so einer Wand gestanden hat, hält das für praktisch unmöglich. Bis er Miroslaw bei der Arbeit zusieht.
Schon in der Qualifikation knackte sie ihren alten Rekord um drei Zehntelsekunden. 6,21 Sekunden standen auf der Uhr, als sie am oberen Ende der Kletterwand auf den Buzzer schlug. Weltrekord. Doch er hielt nicht lang: Kurz darauf stand der nächste Vorlauf an – und Miroslaw buzzerte bei 6,06 Sekunden. Wieder Weltrekord. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war klar, dass Miroslaw in den Finals am Mittwoch schwer zu schlagen sein würde. Doch im Speed-Klettern kann immer alles passieren: Eine suboptimale Bewegung, ein wegrutschender Fuß, eine falsch gesetzte Fingerkuppe – und schon ist alles vorbei.
Doch Miroslaw behielt in den Finalläufen die Nerven. Im Viertelfinale schlug sie erst bei 6,35 Sekunden oben an – für ihre Verhältnisse ein entspanntes Rennen. Im Halbfinale gegen ihre Landsfrau Aleksandra Kalucka steigerte sich Miroslaw auf 6,19 Sekunden. Hätte sie ihren eigenen Weltrekord nicht zwei Tage vorher pulverisiert, hätte sie ihn bei diesem Lauf unterboten. Im Finale schließlich wartete die Chinesin Lijuan Deng auf sie. Auch die kann 6,20 Sekunden unterbieten, das hatte sie bereits im Training unter Beweis gestellt. Doch auch dieses Mal lieferte Miroslaw ab. 6,10 Sekunden nach dem Startsignal war klar: Die erste Goldmedaille in der Disziplin Speed-Klettern bei Olympischen Spielen gewinnt Alexandra „Ola“ Miroslaw.
Keine profitiert so sehr von der Modus-Änderung wie Aleksandra Miroslaw
Noch während sie in der Luft war, schlug sie die Hände vors Gesicht, stieß einen schrillen Schrei aus, sofort schossen ihr die Tränen in die Augen. Kaum auf dem Boden angekommen, kniete sie nieder. Natürlich, sie war als Favoritin in diese Olympischen Spiele gegangen, alles andere als ein Sieg wäre eine riesige Überraschung gewesen. Und noch musste sie einen perfekten Wettbewerb abliefern, durfte sich keinen einzigen Ausrutscher leisten. Jeder in der Sportkletteranlage Le Bourget, die extra für diese Spiele geschaffen wurde, konnte sehen, was für eine Last nach diesem Finallauf von ihren Schultern fiel.
Dabei weiß Miroslaw, wie es sich anfühlt, bei den Olympischen Spielen dabei zu sein. Für die Premiere des Sports 2021 in Tokio hatte sie sich ebenfalls qualifiziert. Damals war das Format aber noch gänzlich anders. Im Gegensatz zu diesem Jahr, in dem zwei Medaillen zu vergeben sind – eine im Speed-Klettern und eine in der Kombination aus Bouldern und Seil-Klettern – wurden damals alle drei Unter-Sportarten des Kletterns gemeinsam bewertet. Miroslaw gewann souverän den Speed-Wettbewerb, wurde aber in den anderen beiden Disziplinen Letzte und verpasste als Vierte knapp die Medaillenränge.
Kein Wunder: Es gibt in allen drei Sportarten Spezialistinnen und Spezialisten. Beim Seil-Klettern kommt es primär auf die Kraftausdauer an und darauf, eine Route „lesen“ zu können, sprich: einzelne Herausforderungen der Routenschrauber lösen zu können. Und: Jeder Kletterer hat nur einen Versuch. Beim Bouldern hingegen sind die Tüftler im Vorteil. Die Sportler dürfen ein Boulder-Problem so oft probieren, wie sie wollen; die meisten Punkte bekommt jedoch, wer die wenigsten Versuche braucht. Hier kommt es hauptsächlich auf Kraft, Koordination und Gleichgewicht an. Im Speed-Klettern hingegen ist die Route im Training und im Wettbewerb immer exakt die gleiche, daher geht es fast ausschließlich um Schnellkraft – eine Qualität, die man fürs Seil-Klettern und Bouldern fast gar nicht benötigt. Die allermeisten Seil-Kletterer und Boulderer trainieren Speed nicht einmal – und umgekehrt.
Von der Modus-Änderung, dass nun zwei Medaillen im Klettern vergeben werden, profitieren im Grunde alle – besonders aber Speed-Kletterer wie Miroslaw. Sie kann sich auf ihre Spezial-Disziplin konzentrieren, während die Boulder-Spezialisten auch bei Olympia 2024 seilklettern und die Seil-Kletter-Spezialisten bouldern müssen. Den deutschen Speed-Kletterinnen und -Kletterern hat das indes nichts gebracht: Sie konnten sich nicht für die Spiele in Paris qualifizieren.
Was das nächste Ziel für Miroslaw ist, ist auch schon klar: Auf der Lasche ihrer Kletterschuhe prangt die Zeit 4:99. Aus heutiger Sicht ein utopischer Wert im Frauen-Speed-Klettern – zunächst peilt Miroslaw wohl die 5:99 bei einem offiziellen Wettbewerb an. Doch unmöglich ist eine Zeit unter fünf Sekunden nicht: Bei den Männern hat am Dienstag der Amerikaner Sam Watson seinen eigenen Weltrekord um vier Hundertstelsekunden verbessert – auf 4,75 Sekunden.