Das Fiese an einer Silbermedaille ist, dass man das Finale verlieren muss, um sie zu bekommen. Judo gehört zu diesen Sportarten, in denen der Bronzegewinner nach seinem letzten Wettkampf lacht und strahlt und der Zweitplatzierte mit hängendem Kopf vom Feld stapft. Bei Miriam Butkereit war es die Matte in der Pariser Champ-de-Mars-Arena, auf der die 30-Jährige am Mittwochabend sekundenlang in der Hocke verharrte. Tief enttäuscht von sich selber.
Und das im größten Moment ihrer Karriere: Eine Medaille bei großen internationalen Meisterschaften hatte Butkereit vorher noch nicht gewonnen, nun war sie die Zweitbeste bei Olympia. Doch dann liefen die Tränen noch lange über ihr Gesicht. „Gerade sind es einfach nur Trauertränen“, sagte sie. Man hörte sie leise schluchzen.
Vielleicht sagt das schon viel über die Judoka aus und darüber, wie sie ihren Sport betreibt. In Paris hatte zunächst alles sehr freudig begonnen für sie, die gebürtige Hamburgerin kämpfte sich in der Gewichtsklasse bis 70 Kilogramm von Runde zu Runde, bis sie plötzlich ganz Großes vor Augen hatte. Im Halbfinale bezwang sie Österreichs Fahnenträgerin Michaela Polleres, dann ging es wirklich um Gold. Eine einzige deutsche Olympiasiegerin hat es im Judosport bisher gegeben, Yvonne Snir-Bönisch hatte 2004 in Athen triumphiert. Butkereit wäre sehr gerne die Zweite gewesen. Im Finale musste sie sich aber Barbara Matic, der Europameisterin und Weltranglistenersten aus Kroatien geschlagen geben. Und den Stachel des letzten verlorenen Kampfes ziehen.
In Frankreich steckt viel Geld im Judo-System – ganz anders als in Deutschland
Ihr Trainer sprach ihr die ersten tröstenden Worte zu, bevor Butkereit in der Halle von der mitgereisten Familie und Freunden geherzt wurde. „Gerade müssen mir alle sagen, dass sie stolz auf mich sind, damit ich mich ein bisschen freuen kann“, sagte sie. Natürlich waren sie stolz, die Vorzeichen hatten vor diesen Spielen ja nicht unbedingt in Richtung Medaille gezeigt. „Vor drei Monaten hatte ich mir noch einen Innenbandriss im Knie zugezogen“, berichtete Butkereit, die Weltmeisterschaft fand ohne sie statt. Dabei hatte sie den Hunger auf mehr, gerade in Paris: Anfang des Jahres hatte sie hier schon den Grand Slam gewonnen, ein Turnier mit Prestige.
Man müsse Miriam Butkereit oft bremsen, sagt Sportdirektor Hartmut Paulat, ihr Ehrgeiz sei „phänomenal“. Mit sich selbst geht die Athletin oft hart ins Gericht, vielleicht zu hart, sagt sie selbst, aber ohne die Selbstkritik „wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin“. Nur wer sich Großes vornimmt, kann auch Großes erreichen. Aber umso anfälliger ist man dann auch für Enttäuschungen. „Sie kann in gewisser Form über ihre Grenzen gehen, da müssen wir dann ein bisschen einschreiten“, sagte Paulat. Vor einer Woche hatte sie sich noch eine Gehirnerschütterung im Training zugezogen, vielleicht auch so ein Zeichen: Das Kämpfen ist einfach ihre Leidenschaft, bedingungslos.
Judokämpfer seien keine Krafttiere oder Ausdauerleute, sagte Butkereit, „wir können alles aber so ein bisschen“. Was sie so an ihrem Sport fasziniert? „Aus jeder Situation kann man eine neue kreieren. Jeder Wettkampf ist anders. Das ist das Schöne. An so einem Tag kann auch einfach der Underdog gewinnen.“ Das weckt stets die Lust auf mehr.
Einigen wenigen deutschen Kämpferinnen gelingt es immer wieder, bei Olympia zu glänzen
In ihrem Finale wurde sie von Barbara Matic früh in einen Haltegriff gezwungen, gerade noch konnte Butkereit ein vorzeitiges Aus abwenden. Dann versuchte sie, sich zu revanchieren. „Nach einer Minute habe ich eigentlich gedacht, dass ich das noch hinkriege, dass ich da noch rankomme. Aber das hat leider nicht geklappt“, sagte Butkereit. „Sie hat noch mal alles versucht, es war kein Herankommen“, attestierte ihr auch der Sportdirektor.
Judo ist in Frankreich Nationalsport und mit Erfolgen gespickt, aus Sicht von Butkereit liegt das auch am anderen Sportsystem im Vergleich zu Deutschland. „In Frankreich steckt viel mehr Geld dahinter“, sagte sie, die Vereine stünden viel besser da. „Die haben ein Trainingszentrum, in dem alle zusammen trainieren“, so Butkereit, das kann man von Deutschland kaum behaupten. Die Trainings- und Wettkampfplanung sei zuletzt ausbaufähig gewesen, berichtete sie, ihre Innenbandverletzung hätte man durch einen clevereren Zuschnitt vermeiden können, glaubt sie.
Gemessen daran sei dieser Mittwoch in Paris „herausragend gut gelaufen“. In ihrer Gewichtsklasse bis 70 Kilogramm war es schon die vierte deutsche Olympiamedaille insgesamt: 2004 in Athen schnappte sich Annett Böhm Bronze, Kerstin Thiele 2012 in London Silber, Laura Vargas-Koch 2016 in Rio Bronze. Einigen wenigen deutschen Kämpferinnen gelingt es dann doch immer wieder, bei Olympia zu glänzen, wie nun Butkereit.
Am Abend sollte es für sie noch ins deutsche Haus in Paris gehen, zum Feiern. „Ich hoffe, dass ich dann mit einem Lächeln die Medaille zeigen kann“, sagte Butkereit. Ihre Tränen waren in dem Moment zumindest schon getrocknet.