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Olympia:Wie fühlt sich ein nachträglicher Olympiasieg an?

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Gold am Gartenschlauch: Ein australischer Geher ist jetzt offizieller Olympiasieger seiner Disziplin - seinen größten Moment durfte er nie erleben, weil andere betrogen haben.

Von Johannes Knuth, Rio de Janeiro

Den Moment, als sie ihn endlich zum Olympiasieger ausriefen, fand der Geher Jared Tallent "nicht sonderlich aufregend". Tallent saß an einem Abend im März 2016 in der Küche seines Hauses in Adelaide, zusammen mit seiner Frau, sie hatten eine Flasche Wein im Kühlschrank gelagert und warteten jetzt vor dem Computer auf eine Nachricht aus Lausanne. Dort beriet gerade der Internationale Sportgerichtshof Cas über die Sperren von sechs russischen Gehern, darunter Sergei Kirdjapkin, Olympiasieger von 2012 über 50 Kilometer; Tallent war damals als Zweiter eingetroffen.

"Wir saßen vor dem PC und haben auf der Cas-Website ständig auf "Neu laden" gedrückt", erinnert sich Tallent. Gegen 21 Uhr flatterte die Nachricht ins Netz. Kirdjapkin hatte seine Goldmedaille verloren, Tallent kletterte virtuell auf die höchste Erhebung des Podests. "Ich hatte damit gerechnet", sagt Tallent, "deshalb war der Moment nicht sonderlich beeindruckend."

Jared Tallent, 31, aus Australien hat gelernt, eine nüchterne Beziehung zu seinem Sport zu pflegen, in dem nach dem Zieleinlauf oft ein zweites Rennen beginnt: das Warten. Sein dritter Platz von der WM 2011 ist mittlerweile ein zweiter, weil Weltmeister Sergej Bakulin erst in diesem Jahr seinen Titel verlor, wegen Blutdopings. Bei der WM 2013 in Moskau rutschte Tallent nachträglich auf den Bronzerang, wie beim World Race Cup 2014. In diesem Jahr wurde er dort Zweiter hinter dem Italiener Alex Schwazer, der - nachdem er als Kronzeuge aufgetreten war - kurz darauf unter seltsamen Umständen erneut positiv getestet wurde.

Und der Olympiasieg von 2012 fiel Tallent erst knapp vier Jahre später zu, weil die korrupte russische Anti-Doping-Agentur die Sperren für ihre Geher oft so vermessen hatte, dass die Athleten ihre Medaillen behielten - ein Prozedere, das der Cas in diesem Jahr nach Protesten des Weltverbands IAAF und Gegenprotesten für unhaltbar erklärte. 57 olympische Medaillen wurden seit Sydney 2000 nachträglich umverteilt, 25 in der Leichtathletik, hat der US-Sender ESPN vor Kurzem ausgerechnet.

Das australische Olympia-Komitee hat Tallent später entschädigt, zwei Monate nach dem Verdikt des Cas hielten sie auf den Treppen vor dem Parlament in Melbourne eine Zeremonie ab. Es regnete heftig, sie hängten ihm seine Medaille von London um, spielten die australische Hymne. "Es war ein besonderer Moment", sagt er heute, vor mehr als 1000 Zuschauern, mit Freunden und Familie. Aber klar, findet Tallent, "es war sicher nie so, wie es an diesem einen Tag in London hätte sein sollen."

Was ist echt und was nicht in diesem olympischen Sportkino, das in Rio de Janeiro bald drei Wochen lang wieder eine Vorführung nach der nächsten geben wird? Der löchrige Anti-Doping-Kampf, den der organisierte Sport längst an die Wand gefahren hat, lässt wohl nur eine allgemeine Antwort zu: Man kann den Siegerbildern nur begrenzt trauen, die in den kommenden Wochen aus Brasilien in die Welt schwappen werden. Weil diese teuren Bilder sich im Nachhinein oft als wertlos herausgestellt haben, weil Olympiasieger bei Nachtests enttarnt, weil Ergebnislisten heimlich umgeschrieben wurden.

Manche Verbände ehren ihre Sportler nachträglich, aber es ist ein schaler Lohn. Olympia ist auch immer das große Schaulaufen der Ein-Tages-Helden, am nächsten Tag werden schon die nächsten Sieger prämiert. Wer erinnert sich heute noch an den Vierten, der mittlerweile Zweiter ist? Was passiert ist, ist passiert, hinausgesendet in die Welt. "Die schwerste Erfahrung", sagt Tallent, "war, dass ich mich lange auf London vorbereitet hatte und erst im Nachhinein herausfand, dass ich alles richtig gemacht hatte. Aber das weißt du in dem Moment ja noch nicht. Also zweifelst du, fragst dich, was du besser machen kannst, um endlich ganz nach oben zu kommen."

Tallent beteuert, dass er sich niemals vorstellen könnte zu betrügen, und wenn man studiert, wie lange er sich auf dem Pfad zu seinen ersten Olympia-Medaillen (Bronze und Silber 2008) in die Weltspitze tastete, wirkt das sogar glaubwürdig. Er probierte als Jugendlicher alle Disziplinen aus, nicht immer mit Erfolg, als Kind hatte er seinen rechten Zeigefinger in einer Kartoffelsortiermaschine verloren. Er blieb beim Gehen hängen, das wegen seiner eigenwilligen Technik gerne belächelt wird, das Tallent aber faszinierte, wegen der Herausforderung, dreieinhalb Stunden lang eine fließende Bewegung abzurufen.

Er ist kein Lautsprecher, aber er sagt schon, wenn ihm etwas nicht passt, ohne dabei seinen Humor zu verlieren. Als er im vergangenen Mai erfuhr, dass der Russe Denis Nischegorodow, Weltmeister über 50 Kilometer von 2011 vor Tallent, bei einem Nachtest erwischt worden war, führte Tallent selbst eine Siegerehrung durch; im Garten eines Freundes kletterte er auf einen Backstein, von dort winkte er ins imaginäre Publikum. Die echte WM-Goldmedaille wird Nischegorodow allerdings behalten, seine B-Probe fiel negativ aus.

Tallent ist nach dieser Aktion viel Aufmerksamkeit zugeflogen, aber er weiß auch, dass er noch immer eine Karriere im Konjunktiv führt, dass er vieles nicht mehr zurückholen kann, Bilder, Emotionen, Geld. "Du weißt letztlich nie, was dir Renndirektoren an Startgeld angeboten hätten, wenn du dich als Olympiasieger angemeldet hättest", sagt er.

Zuletzt setzte er im Internet einen digitalen Spendenaufruf ab, um 5000 jener 50 000 Dollar zu finanzieren, die er pro Jahr in den Sport investiert. Damit er zumindest Hotels, Mietautos, Benzin und die Abendessen im Höhentrainingslager in St. Moritz refinanzieren kann. Die Doping-Debatte hat viel Kraft genommen, nicht nur ihm, "sie hat den Sport sehr befleckt" sagt er, "du kannst es als Athlet gar nicht mehr so sehr genießen wie früher." Aber er sieht auch Fortschritte.

Das Vorhaben des Weltverbandes, Doping-Tests und Rechtsprechung aus den nationalen Verbänden zu lösen. Und Russlands Leichtathleten sind aus Rio kollektiv verbannt, allen voran die notorisch auffälligen Geher aus der Obhut des lebenslang gesperrten Trainers Wiktor Tschegin. "Ich hoffe, dass in Rio diesmal alles zusammenpasst", sagt Tallent. Er hat die Hoffnung nicht aufgegeben auf seinen einen Tag im Bildergewitter.

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Quelle:
SZ vom 04.08.2016
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