Die Werbung für dieses Rennen hatte Sebastian Coe höchstpersönlich übernommen. Natürlich war das gar nicht mehr nötig, aber auch Fachfremde sollten verstehen: An diesem Dienstagabend im Stade de France sind alle herzlich eingeladen, mal auf die 1500 Meter zu schauen. „Das wird ein Rennen für die Ewigkeit“, sagte der Präsident des Weltverbandes der Leichtathleten voraus. Erst Anfang Juli war Tokio-Olympiasieger Jakob Ingebrigtsen Europarekord gelaufen. Mit Josh Kerr aus Großbritannien, dem Weltmeister, verbindet den Norweger eine erbitterte Rivalität. Und als das Finale dann tatsächlich absolviert war, hieß der Sieger: Cole Hocker. Cole Hocker? Cole Hocker!
Ein Rennen ist nicht vorbei, bis es vorbei ist. Das ist ein simples Gesetz der Leichtathleten, war in dem Spannungsfeld rund um Jakob Ingebrigtsen aber doch noch einmal eine Erwähnung wert. Denn Ingebrigtsen, der als 17-Jähriger schon die Elite geärgert hatte, verpasste nicht nur den Sieg, sondern auf Platz vier überhaupt eine Medaille. Das ganze Rennen über lag er in Führung – bis es zum letzten Mal auf die Gerade ging, und Hocker aus den USA, Kerr und Yared Nuguse, ebenfalls aus den USA, noch an ihm vorbeizogen. „Ich habe es selbst ruiniert, weil ich es zu hart angegangen bin“, sagte der 23-Jährige später.
Den Olympiasieg über 1500 Meter konnte bisher nur ein Mann zweimal erringen: Sebastian Coe, der ebenfalls im Stadion verweilte, um dem Spektakel beizuwohnen. Ingebrigtsen hätte es Coe gerne nachgemacht, seine Auftritte vor diesem Finale heizten die Stimmung an. Im Halbfinale war er beim Start einfach lässig stehen geblieben und hinter dem Feld her gejoggt, um dann schließlich noch seinen gefürchteten Schlussspurt hinzulegen.
Ingebrigtsen spurtete vorneweg mit einem Tempo, das sich als Fehler herausstellen sollte
Die 1500 Meter sind immer auch ein taktisches Rennen, und dass er vorher dominant durchs Halbfinale gesaust war, verleitete Ingebrigtsen dazu, sich im entscheidenden Moment zu verpokern. „Ich fühlte mich extrem gut, und deshalb habe ich das Tempo etwas zu sehr forciert“, sagte er. Ingebrigtsen spurtete von Beginn an mit einem Tempo vorneweg, das sich später als Fehler herausstellen sollte. „Ich bin die erste Runde in 54 Sekunden gelaufen. Das war überhaupt nicht der Plan, das war zwei Sekunden zu schnell“, sagte er. Er nahm sich vor, einen Gang zurückzuschalten, aber auch das muss man erst mal hinkriegen in dieser Kulisse mit den 70 000 tobenden Zuschauern. Ingebrigtsen scheiterte daran, auch die zweite Runde geriet viel zu schnell.
Vor der letzten Kurve blickte sich Ingebrigtsen dann um, einmal, zweimal, und ja: Da kam ihm Josh Kerr immer näher. Bei der WM im vergangenen Jahr hatte Kerr Ingebrigtsen schon einmal bezwungen. Doch nicht nur er war es ja, der plötzlich aus der Deckung herausschnellte, da tauchte auf der Innenbahn auch noch dieser Cole Hocker auf, der bisher noch keine Medaille gewonnen hatte. „Schnapp dir Silber, schnapp dir Gold!“, dachte sich Hocker auf dem Weg zum Ziel, neben ihm schnaufte der Norweger. „Auf den letzten 20 Metern wusste ich, dass es Gold wird“, sagte Hocker später. Er stellte in 3:27,65 Minuten sogar einen olympischen Rekord auf. Kerr (3:27,79) streckte sich minimal vor Hockers Landsmann Yared Nuguse (3:27,80) über die Ziellinie, erst dann traf Ingebrigtsen (3:28,24) ein. Und das Stadion wusste gar nicht, worüber es mehr staunen sollte: Über den Sieger oder darüber, dass Ingebrigtsen tatsächlich leer ausgegangen war.
Während Hocker seinen Triumph noch begreifen musste, sagte Ingebrigtsen, es tangiere ihn wenig, dass er schlechter als Kerr abgeschnitten hatte. „Ich bin mehr enttäuscht, dass ich mir das Rennen selbst ruiniert habe“, so Ingebrigtsen. Kerr sagte, er habe natürlich Gold gewollt, aber Silber sei auch besser als seine Bronzemedaille vor drei Jahren in Tokio.
Noch in der Nacht meldete sich Ingebrigtsen dann auch auf Instagram zu Wort. „Nun, ich denke, er ist endlich aufgetaucht...“ begann er seinen Beitrag und meinte damit Kerr. Seit einiger Zeit wirft er dem Briten ja schon vor, sich nur bei wenigen Rennen zu präsentieren und die Duelle mit ihm zu meiden. „Mein Team sagt immer: Wer eine große Klappe hat und derjenige ist, den es zu schlagen gilt, hat in Wettbewerben alles zu verlieren“, schrieb Ingebrigtsen weiter, das war dann auch mit Selbstreflexion versehen. Hocker, Nuguse und Kerr seien die Besten gewesen, als es darauf ankam.
Im Ziel klatschte Ingebrigtsen seine Konkurrenten noch kurz ab und ging dann von der Bahn, auch über 5000 Meter tritt er bei diesen Spielen noch an. In Sichtweite von ihm stand die olympische Glocke, die jeder Sieger im Stade de France läuten darf, um seinen Erfolg noch einmal zu unterstreichen. Und die Glocke läutete dann Cole Hocker.